Teilprojekt 4 (Gelz / N.N.)
Die Ethik des Sports und ihre Artikulation in und durch die Literatur
Verantwortlicher: Andreas Gelz
Doktorand:in: N.N.
Dass dem Sport im Sinne einer sportlichen Praxis und der durch sie konstituierten oder von ihr genutzten Räume - den Arenen des Sports - eine ethische Dimension innewohnt, ist eine historische Tatsache, die bis heute nichts an Reichweite und Aktualität eingebüßt hat. Ethische Betrachtungsweisen des Sports von der Antike bis zu den Globalisierungs- und Medienkontexten der Gegenwart resultieren aus dem hohen Stellenwert des Körpers und seiner Handlungen im Sport, der für den Sport charakteristischen Interaktion der Körper im Wettstreit, ihrer Begegnung mit dem Publikum (und damit der Gesellschaft) sowie ihrer Formierung und Inszenierung in Stadien und anderen Arenen des Sports, ohne die alle anderen genannten Konstellationen nicht vorstellbar wären - und nicht zuletzt aus ihrer umfassenden Medialisierung und (gesellschaftlichen) Funktionalisierung - auch und nicht zuletzt durch Literatur. Der Sportler und die Sportlerin, die sportliche Praxis und die Sportstätte erscheinen in Literatur und Kunst als Projektionsfigur, Projektionsfläche und -raum einer Begegnung des Menschen mit sich selbst, der Gemeinschaft (Mannschaft, Team) oder der Gesellschaft (Fans, Publikum) im Sinne einer Grenzerfahrung, der Überschreitung natürlicher bzw. körperlicher Grenzen, der Ästhetisierung der eigenen Existenz, der Erfahrung sinnerfüllter Präsenz. Dieser Zusammenhang, in dessen Mittelpunkt das Stadion und andere Arenen des Sports stehen, soll im Teilprojekt an ausgewählten literarischen Texten des 20. und 21. Jahrhunderts untersucht werden.
Der Sport bzw. die Sportstätte als imaginärer, phantasmatischer Raum der Verwandlung, wie er auch in literarischen Texten konstituiert wird, erscheint dabei in der Moderne als Raum zeitgemäßer "Akte der erfolgreichen Selbstermächtigung" (Bette) und außergewöhnlicher körperlicher, psychischer wie mentaler Leistungen des Sportlers und der Sportlerin. Das Stadion bzw. die Arena wird zum Ort der Erprobung eines neuen Menschenbilds - der bewegte, trainierte und leistungsorientierte Körper des Sporttreibenden (Fleig) als emblematische Figur der Moderne -, befördert neue Sichtweisen auf Körperlichkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit, auf gesellschaftliche Teilhabe (vgl. die Vision des Stadions in der Zwischenkriegszeit als Ort des Friedens und der Versöhnung zwischen Generationen und Klassen im Zeichen sportlicher camaraderie als zentrales Merkmal einer neuen Lebensform, der sogenannten vie athlétique, siehe Montherlant [1924], vs. nietzscheanische Vorstellung eines (sportlichen) "Übermenschen", siehe Jarry [1902]). Die Arenen des Sports präsentieren sich einerseits als Raum klassenloser Interaktion und erzieherischer Impulse im Sinne sportlicher Ideale des Fair Play sowie neohumanistischer Vorstellungen der Einheit von Körper und Geist. Die Kehrseite dieser Vorstellungen sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts politische, nationalistische Instrumentalisierungen des Sports, man denke nur an die Funktionalisierung des Sports durch die totalitären Regime der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die Problemhorizonte der literarischen Darstellung von Arenen des Sports reichen dabei von der Thematisierung individuellen Verhaltens oder auch von Identitätsvorstellungen (vgl. etwa die identitätsstiftende Funktion des Radsports und der Radrennbahn, des Vél d’Hiv‘, die für die Protagonisten von Robert Bobers Roman Berg et Beck [1999], zwei jüdischen Kindern im von Nationalsozialisten besetzten Paris, zu prekären Symbolen ihrer Zugehörigkeit zur französischen Nation werden) bis hin zu Fragestellungen einer gesellschaftlichen Ethik – z.B. vom Fair Playüber die Doping-Problematik bis zur Kommerzialisierungsdynamik –, die im Mikrokosmos Sport und d.h. in den Arenen des Sports beispielhaft beobachtet werden können (etwa in Entwicklungsromanen, Auto- bzw. Biofiktionen oder im Krimi, der ethische Grenzverletzungen aufgreift, von Frédéric Dard [1965] zu Jean-Noël Blanc [2000]). Thematisiert wird mithin das Spannungsfeld zwischen der (Selbst-)Wahrnehmung des Körpers von Sportlern bzw. Sportlerinnen und dem, was diese für andere verkörpern. Der Körper, der in der sportlichen Praxis, gestaltet, dominiert und funktionalisiert wird, entzieht sich zugleich aber immer wieder diesen und anderen Vorgaben (vgl. etwa die wiederholte Thematisierung des Schmerzes in der Sportliteratur, etwa bei Hémon [1925]) und damit all den Rahmungen, zu denen auch das Stadion oder andere räumliche Konstellationen gehören, in denen Sport stattfindet. Arenen (in der Literatur) sind der Ort, an dem der/die Einzelne und die Gesellschaft, an dem normative und nicht normative Vorstellungen von Körperlichkeit und (sportlichem) Verhalten, kodierte und nicht-kodierte Verhaltensmuster aufeinanderprallen, tatsächliche auf imaginäre Räume, Regeln auf Regellosigkeit, ein friedliches Miteinander auf Gewalt, der gesellschaftliche Zugriff auf die Irreduzibilität der individuellen sportlichen Erfahrung, Räume einer Logik von Eingrenzung, Ausgrenzung auf eine Logik der Entgrenzung. An diesen prekären Grenzziehungen partizipiert die Sportliteratur, die auf diese Weise einen zentralen Beitrag zur Beantwortung virulenter ethischer (und politischer) Fragen unserer Gegenwart zu leisten vermag.