Teilprojekt 3 (Dietschy / N.N.)

Stadionnutzung(en) – Städtische Kulturen, Zirkulationen und Konsumformen

Verantwortlicher: Paul Dietschy
Doktorand:in: N.N.

Das Teilprojekt bezieht sich auf Sportanlagen wie Velodrome, Fußball-, Rugby- oder Mehrzweckstadien, oder Sportpaläste, die mindestens 10.000 Zuschauende fassen können. Es soll diese Gebäude sowohl in Momenten höchster Aktivität, an Spieltagen oder bei Wettkämpfen, als auch im Kontext alltäglicher Nutzung betrachten. Es wird darum gehen, in einer vergleichenden Perspektive zwischen Deutschland, Frankreich und einigen anderen ausgewählten Beispielen aus Europa und der übrigen Welt zu untersuchen, wie sich Sport-Arenen in den städtischen Raum eingefügt haben; dazu gilt es, das Objekt Stadion unter kultur-, wirtschafts- und stadtgeschichtlichen Blickwinkeln zu analysieren. Vielfältige und umfangreiche historische Quellen stehen zur Verfügung: öffentliche Archive, besonders Stadtarchive, Sportarchive (Vereine, Verbände), Unternehmensarchive (Banken, Industrieunternehmen) und die (Sport-)Presse. Das Projekt will auch Quellen konsultieren, die noch ungenutzt geblieben sind: etwa die Archive der Assistance publique, die bisher unbekannte Informationen über die Publikumszahlen und Wettbewerbseinnahmen zutage fördern können.

Die Fragestellungen konzentrieren sich auf den Platz und die Rolle von Sportanlagen in wachsenden Städten, die auch den Kriegszerstörungen und Neugestaltungsplänen des urbanen Raumes ausgesetzt waren. Ausgehend von der Inszenierung des Sport-Events, seinem Vor- und Nachlauf, gilt es erstens zu untersuchen, wie sich der Stadionraum historisch in das Wirtschaftsleben, die Verkehrsströme und die städtische Identität einfügt; zweitens wie sich die Sport-Arena nach der Kathedrale, dem Rathaus, dem Markt, dem Theater, den Geschäften und dem Bahnhof zu einem Ort entwickelt, der den städtischen Raum - auch kommerziell durch Geschäfte, Bars und Restaurants - beleben, aber auch abstoßend wirken kann: als unter der Woche frequentierte oder an Wochenenden zum Leben erwachte Betonmassen.

Zu diesem Zweck wird für das Teilprojekt zunächst eine Stadion-Kartografie für Deutschland, Frankreich und ausgewählten Nachbarländer wie Österreich, Belgien, Spanien und Italien angelegt, danach ein Sample mit ähnlichen Eigenschaften (Größe der Stadt, Sportart, Wettkampfniveau etc.) in den oben genannten Ländern - und möglicherweise in Argentinien, Brasilien, Uruguay - erstellt.

Die Analyse soll sich auf die folgenden Punkte konzentrieren:

Zunächst besteht die Absicht, das Stadionprojekt samt Umgestaltungen zu studieren, eine Genealogie der Sportbauten zu erarbeiten und die Ursprünge privater bzw. städtischer Bauprojekte nachzuvollziehen, die zwischen sportlichen und kommerziellen (z.B. Campo Juventus in Turin 1922) oder gesundheitspolitischen und erzieherischen Motiven schwankten. Es geht auch darum, die Verbreitung von Modellen in Europa in den Blick zu nehmen wie bei den Velodrome-Stadien in Bordeaux und Marseille nach italienischem Vorbild. Die Rezeption der Stadien in der Presse spielt ebenfalls eine wichtige Rolle.

Danach muss es darum gehen, wie sich das Stadion in den städtischen Raum einpasst: sei es in die wenig erschlossenen oder gar abweisenden Randgebiete oder in die grüne Wachstumszone einer Stadt wie z.B. beim Olympiastadion in Berlin; es wird zu zeigen sein, wie es sich an die Verkehrsnetze und deren Endpunkte anschließt (z.B. beim Wembley-Stadion in London oder beim Parc des Princes um die Porte d'Auteuil und Saint-Cloud) bis hin zu dem Punkt, an dem spezielle Bahnhöfe oder Metro-Stationen entstehen, z.B. beim Stade de France in Saint-Denis.

Besonderes Augenmerk widmet das Projekt den Nutzungen des Stadions an Tagen, an denen dort eine Sportveranstaltung stattfindet. Bei diversen Turnieren, Sechstagerennen, Meisterschafts- und Pokalspielen oder internationalen Begegnungen lässt sich unmittelbar beobachten, wie das Gebäude zum Leben erweckt wird und wie das Publikum und die Fans es sich aneignen. Dabei spielen Nutzungsmodifikationen - etwa der Übergang vom Olympia- zum Fußballstadion in München zwischen 1972 und 2006 - eine wichtige Rolle, daneben geht es um infrastrukturelle Regelungen, was Verkehrsflüsse anbelangt oder den Empfang von mehreren zehntausend Zuschauenden: im Eingangs- und Treppenbereich, auf Sitz- und Stehplätzen, bei den Sanitäranlagen. Nach dem Quantifizieren der Zuschauendenzahlen nach Saison und Art des Events sind auch die Stadionpubliken näher zu bestimmen: Handelt es sich um eine männliche, altersgemischte Menge aus eher einfachen Verhältnissen oder müssen wir diese pauschal anmutende Aussage relativieren? Die Art und Weise, wie Menschen im Stadion dem Geschehen beiwohnen, als einfache Zuschauende, als Fan oder Ultra, wird ebenfalls untersucht, dies im Kontext einer scheinbaren Hierarchisierung von der Präsidententribüne bis zur Fankurve; zudem sind Kommunikationsprozesse und -verläufe - Stadionsprecher/Lautsprecherdurchsagen, Radio/Transistor, Fernsehen/erste Großbildschirme - zwischen Veranstalter und Publikum zu beachten, ebenso die Werbung.

Darüber hinaus beschreibt die Sport-Arena auch einen Ort des Konsums, für den Erhebungen der Eintrittspreise und sonstiger Kosten durchzuführen sind. Diverse Konsumpraktiken prägen das Stadion zwischen Empfangshallen, Imbissbuden und den ersten Vereinsläden, die Produkte mit dem Logo des Vereins anbieten. Auch das Umfeld des Stadions samt Bars, Restaurants und Geschäften findet Berücksichtigung, weiter die Straßenverkäuferinnen und -verkäufer an Spieltagen sowie die "Normalisierung", die Sportvereine und -verbände zu erreichen versuchen, indem sie Geschäftspartnerinnen und -partnern (Fast Food, Softdrinks, Biermarken) den Verkauf von Lebensmitteln vorbehalten.

Ein weiterer Fokus liegt schließlich auf der "Unter-der-Woche-Nutzung" des Stadions. Es geht dabei um Fragen der Instandhaltung und des täglichen Betriebs. In diesem Zusammenhang werden auch die wirtschaftliche Logik des Stadions und die Verteilung der Einnahmen zwischen Verein, Stadtverwaltung und Steuern zu betrachten sein. Schließlich wird nach den zweckentfremdeten Nutzungsformen der Sport-Arena als politische Versammlungsstätte, als Gefangenenlager oder seit Kurzem als Impfzentrum gefragt, nicht zuletzt nach neuen kommerziellen Aktivitäten durch Vereinsläden, Büros, Restaurants etc., die das Stadion zu einem Ort wirtschaftlicher Aktivität oder - im Falle von Mehrzwecksportvereinen - sogar zu einem Ort des kulturellen und sozialen Lebens machen sollen.