Teilprojekt 1 (Bauer / Mommessin)

Das Stadionerlebnis aus fiktionaler Perspektive

Verantwortlicher: Thomas Bauer
Doktorand: Clément Mommessin

Das Ziel dieses Forschungsprojekts besteht darin, auf der Grundlage eines umfangreichen Korpus vorwiegend französischer literarischer und/oder filmischer Sporterzählungen, die von der Belle Époque bis heute reichen, die Erfahrungen in einer Sport-Arena zu untersuchen. Dazu wollen wir zwei komplementäre Sichtweisen analysieren.

Die erste bezieht sich auf die Sporterfahrung der fiktionalen Figuren, unabhängig von ihrer Rolle oder Funktion: Publikum, Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, Trainerinnen und Trainer, Ordnerinnen und Ordner, Verkäuferinnen und Verkäufer, Stadionsprecher, Journalistinnen und Journalisten etc. Beispiele sind die Interaktionen, die Pierre Benoist (1930) in Le Mystère du Parc des Princes das Prinzenparkstadion beschreibt oder die Darstellungen des imaginären Stadions in W ou le Souvenir d‘enfance von Georges Perec (1975). Kollektive Vorstellungen über das Stadion herauszuarbeiten und die Gemeinschaft zu (re)konstruieren, die innerhalb einer Arena bestehen kann (diese Erfahrung kann je nach Tragweite des Ereignisses, der Konfiguration des Ortes oder der Zusammensetzung der Menge unterschiedliche Aspekte annehmen), erfordern es, die Blickwinkel zu vervielfältigen, um diesen transkulturellen Raum besser einzugrenzen. Mehrere Spielfilme veranschaulichen dies auf eindrucksvolle Art und Weise: das Olympiastadion von Los Angeles im Jahr 1932 in Jim Thorpe – All American von Michael Curtiz (1951) oder das Olympiastadion von Tokio in Running Brave von Donald Shebib (1983). Unter anderem gilt es die Umsetzung der fünf Sinne (Geschmack, Geruch, Gehör, Tastsinn, Sehsinn) in Wort und Bild zu analysieren. Wenn wir uns beispielsweise auf das Klangerlebnis konzentrieren, wird ersichtlich, dass eine ganze Reihe von Geräuschen ein Sport-Event begleitet: Gesang, Pfeifen, Schreie, Stimmen, Glocken, Hupen, Trompeten, Ausrufe, Maschinengeräusche, Fanfaren etc. Dies trifft etwa auf Beschreibungen der Atmosphäre im Vél‘ d’Hiv‘ im Roman La Ronde infernale von Henri Decoin (1928) oder auch im Film À mort l‘arbitre von Jean-Pierre Mocky (1984) zu. Die Fiktion gibt diese unterschiedlichen Stimmungen, die in einem Stadion herrschen, mit den ihr eigenen Schreibtechniken wieder, sei es in der Literatur (Vokabular, Lautmalerei, Interpunktion) oder im Film (Dialoge, Geräuschkulisse, Soundtrack). Diese Ausrichtung, die sich an Konzepte der sound studies mit ihren Registern der Stille (Andacht, Träumerei, Innehalten) und der Klänge (Geräuschkulisse, Musikalität, Musik) anlehnt, ermöglicht es, verschiedene Erfahrungen in den Blick zu nehmen, die u.a. Sportberichte in Frankreich und Deutschland schildern, indem Verfasserinnen und Verfasser eine strukturelle Analyse und eine mediale Reflexion miteinander kombinieren.

Der zweite Gesichtspunkt, der eng an den ersten anlehnt, betrifft die Sporterfahrung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie/oder Filmemacherinnen und Filmemachern. In diesem Sinne wird das Teilprojekt die Analysen der Stadion-Nutzungspraktiken ergänzen. In der Tat bildet die Begegnung eines Autors oder einer Autorin mit dem Sport manchmal den Ausgangspunkt seines künstlerischen Schaffens. La Légende du football (1981) zum Beispiel hat seinen Ursprung in den Erinnerungen des Schweizer Dichters Georges Haldas, der als Kind ein Fan des FC Servette war; gleiches gilt für Je suis né la même année que PSG, einen Roman von Grégory Protche (2018). Viele solcher Texte lassen erkennen, dass persönliche Erfahrungen, die man als Kind oder Jugendliche/Jugendlicher gemacht hat, es einem Autor oder einer Autorin erlauben, viele Jahre später darüber zu schreiben oder sie auf der Leinwand zu zeigen. Eine Auseinandersetzung mit der Ethik im Sport oder mit der Feminisierung der Sportpraxis wird weitere Analysemöglichkeiten eröffnen. Es besteht ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis, bei dem das Stadion letztlich eine Art alchemistisches Element darstellen würde. Bei der Betrachtung dieses zweiten Aspekts muss es daher darum gehen, in die Geschichte und die Werkstatt der Künstlerinnen und Künstler einzutauchen, um die Erfahrungen einer fiktiven Figur mit denen ihres Urhebers oder ihrer Urheberin zu vergleichen.

Vom Boxring bis zum Velodrom, vom Autodrom bis zum Fußballstadion, vom Wassersportstadion bis zur Rodeo-Arena (Zhao, 2017) - viele Orte und Atmosphären werden zu untersuchen sein, um das Wesen des Sports, der im Zentrum unserer modernen Gesellschaft steht, besser zu verstehen.