Schreiben als szenographischer Akt: Sylvano Bussottis Praktik freihändiger Rastrierung
Dr. Julia Freund (Institut für Historische Musikwissenschaft, Universität Hamburg)
Während die graphischen Partituren des italienischen Komponisten Sylvano Bussotti (1931–2021) in der Forschungsliteratur zur Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts häufig illustrierend herangezogen werden, um die Notationsexperimente der 1950er und 60er Jahre zu veranschaulichen, steht eine eingehende Untersuchung der spezifischen Merkmale von Bussottis musikalischen Schreibpraktiken noch aus. Vor diesem Hintergrund möchte sich der vorliegende Beitrag einem der vielleicht augenfälligsten Besonderheiten vieler graphischer Partituren Bussottis widmen: der freihändigen Rastrierung.
Anknüpfend an einige Thesen des Anthropologen Tim Ingolds zur Kulturgeschichte der Linie in der Moderne soll eine Lesart entwickelt werden, in der die dynamischen, oszillierenden Notenlinien in Bussottis Notationen als Aufhebung der in der Fünfliniennotation vorherrschenden geraden Linie in den Blick geraten. Nicht zuletzt in den z.T. deutlich vor Auge gestellten ‚Verflüssigungen‘ des Fünfliniensystems lassen sich Bussottis Notationen als Medium der Reflexion auf die visuell-räumlichen Bedingungen bisheriger Notationspraktiken deuten, die gleichwohl partiell noch wirksam bleiben. Im Moment des Zur-Schau-Stellens (der Bedingungen) des Schreibens im Schreiben zeigt sich eine szenographische Dimension musikalischer Schrift, die mit Seitenblick auf Roland Barthes‘ Schriftkonzept theoretisch beleuchtet wird. Als Beispiele dienen einige instrumentalmusikalische Partituren der späten 1950er Jahre sowie insbesondere die Partitur zu dem Ballett Oggetto amato (1975).
Julia Freund studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Freiburg, Bristol und München. 2014–2017 war sie als Visiting Research Assistant an der University of Leeds tätig. Promoviert wurde sie 2017 an der LMU München; die Arbeit erschien im Frühjahr 2020 unter dem Titel "Fortschrittsdenken in der Neuen Musik. Konzepte und Debatten in der frühen Bundesrepublik" im Wilhelm Fink Verlag. 2018–2021 war Julia Freund Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der JLU Gießen sowie im D-A-CH-Forschungsprojekt „Writing Music. Iconic, performative, operative, and material aspects in musical notation(s)“. Seit 12/2021 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg. Ihre Forschungsinteressen liegen insbesondere in der Musik des 19.–21. Jahrhunderts, der Geschichte und Theorie der Notation sowie in Fragen der Musikästhetik und Musikhistoriographie.