Netzwerk zur Musikgeschichte der islamischen Welt. Ein interdisziplinäres Fachgebiet in Forschung, Lehre und institutioneller Verortung
Dr. Yasemin Gökpinar, Dr. Stephanie Schewe (Ruhr-Universität Bochum, Institut für Arabistik und Islamwissenschaft, GB 2/37
Andreas Haug schreibt über Max Haas, dass dieser sich wie kein anderer Gelehrter seiner Zeit für die kulturelle Entgrenzung des Gegenstands musikgeschichtlicher Forschung eingesetzt habe. Es ist dieser Ansatz von Max Haas – „die Grenzen des christlichen lateinischen Westens sprachlich, religiös und räumlich [zu überschreiten]“ –, der die Ausrichtung des hier vorzustellenden Forschungsnetzwerkes in seinem Kern beschreibt, nur umgekehrt: aus der Perspektive der Musikgeschichte der islamischen Welt.
Diese zu erforschen ist eine interdisziplinäre Aufgabe. Die überwiegend historische Musikforschung auf diesem Gebiet untersucht Themenbereiche, deren musikalische Erscheinungsformen sich auf einem breiten Spektrum verschiedener – zugleich aber gemeinsam in der islamischen Welt verorteter – Musiktraditionen ansiedeln. Weil die Forschung insbesondere auf Originalquellen basiert, müssen auch deren Sprachen in der Forschung abgebildet werden. Zu den wichtigsten islamischen Kultursprachen gehören neben Arabisch auch (Osmanisch-)Türkisch und Persisch. Durch ein philologisch übergreifendes und interdisziplinäres Netzwerk soll die Erforschung der Musikgeschichte der islamischen Welt im Verständnis der historischen Musikwissenschaft sowie der einzelnen Philologien etabliert werden.
Die Zeitspanne des Netzwerk-Projektes umfasst etwa 800-1900, also die islamische Herrschaft der Abbasiden und ihrer Nachfolger bis zum osmanischen Reich. Innerhalb der islamischen Welt waren Austauschbewegungen der Normalzustand. Im Bereich der Musik betreffen diese: die theoretische Beschäftigung mit der Musik (mathematische Betrachtung, Dichotomie von Theorie und Praxis), die Kompositionslehre, die philosophische Spekulation über Musik und die Terminologie.
Die Rezeption der antiken Musiktheorie in der islamischen Welt bildet den Ausgangspunkt, von dem aus die weiteren Wechselwirkungen in der Spätantike, im lateinischen Mittelalter, in Byzanz und Europa zu betrachten sind. Übernahmen und Weiterentwicklungen von Instrumenten, von modalen und rhythmischen Strukturen oder von spekulativen Ansätzen, wie der heilsamen Wirkung von Musik, zeigen nur allzu deutlich, dass die islamische Musikgeschichte auch für die europäisch historische Musikwissenschaft einen erkenntnisreichen Transferbereich darstellt und so wesentlich zum Verständnis gegenseitiger Einflüsse, Adaptionen, aber auch Einzelentwicklungen beitragen kann. Die Vorstellung des Netzwerk-Projektes wird von dessen beiden Leiterinnen gehalten.
Dr. Yasemin Gökpınar ist Arabistin, Islamwissenschaftlerin und Musikwissenschaftlerin. Sie wurde in Bochum mit einer Arbeit über “Höfische Musikpraxis in der arabisch-islamischen Kultur des Mittelalters von der Abbasidenzeit bis zu den Mamluken” (2016) promoviert. Ihre Forschungsinteressen umfassen arabische Musiktheorie und -kultur, griechisch-arabische Übersetzungen und Handschriftenkultur. Dr Yasemin Gökpınar arbeitet seit April 2018 als geschäftsführende Assistentin am Institut für Arabistik und Islamwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum (RUB), und seit Oktober 2018 gleichzeitig als wissenschaftliche Mitarbeiterin im ERC-Projekt “Ancient Music Beyond Hellenisation” an der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien. Innerhalb des Projektes erforscht sie die arabische Musiktheorie und den Transfer von Terminologie und Konzepten aus dem Griechischen bei al-Fārābī (gest. 950).
Dr. Stephanie Schewe studierte Musikwissenschaft und Arabistik. 2016 erfolgte die Promotion im Fach Arabistik mit dem Titel "Al-Kindī und die Wirkung der Musik". Von 2016-2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "Die Rezitation heiliger Texte - Formgebende Austauschprozesse zwischen syrisch-aramäischen Gesangstraditionen und der Koranrezitation". Seit 2021 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "Austauschprozesse in den Rezitationen heiliger Texte aus dem iranisch-mesopotamischen Raum: Bedrohtes Erbe der Juden, Christen, Mandäer und Muslime". Forschungsschwerpunkte sind antike Musiktheorie, arabische Musiktheorie sowie die musik- und sprachwissenschaftliche Erforschung der Koranrezitation.