Komponierende Väter, kompilierende Söhne – Praktiken innerfamiliärer Zusammenarbeit in Musikdrucken des späten 16. Jahrhunderts
Roman Lüttin (Universität Heidelberg)
Die Namen Ferdinand und Rudolph di Lasso sind bis heute eng mit dem 1604 veröffentlichten „Magnus Opus Musicum“ verbunden – einer Art Gesamtausgabe der Motetten ihres 1594 verstorbenen Vaters Orlando di Lasso. Insbesondere durch die 2020 im Bayerischen Hauptstaatsarchiv wiederentdeckten Druckfahnen der Sammlung erhielt das Nachlassprojekt neue Aufmerksamkeit. Unabhängig davon, ob darin tatsächlich die Söhne Lassos oder aber Mitarbeiter aus der verantwortlichen Offizin von Nikolaus Heinrich korrigierten: das Großprojekt mit über 500 Motetten in vier Drucken erforderte eine enge Kooperation beider Brüder. Die Zusammenarbeit von Ferdinand und Rudolph geht gleichwohl über die reine Herausgebertätigkeit hinaus und schließt auch ihren Vater Orlando di Lasso als Akteur mit ein. Bereits zu Lebzeiten bindet dieser seine ebenfalls komponierenden Söhne in unterschiedliche Publikationsprojekte ein, und umgekehrt nutzen auch Ferdinand und Rudolph vor und nach dem Tod des Vaters dessen Werke, um eigene Vertonungen in gemeinschaftlichen Anthologien zu lancieren.
Innerfamiliäre Zusammenarbeiten dieser Art stellen im Musikleben des späten 16. Jahrhunderts keine Seltenheit dar – sie findet ähnlich in den Komponistenfamilien Palestrina und Regnart statt. Die Bandbreite der Medialisierung solcher Kollaborationen reicht von der opulenten Inszenierung bis hin zur bewussten Maskierung des familiären Kontextes. Ziel des Vortrags ist eine Vorstellung verschiedener Praktiken innerfamiliärer Zusammenarbeit im Medium des Musikdruckes. Deutlich soll dabei werden, dass das Komponieren und Publizieren im Familien-Verbund ganz unterschiedliche Motivationen und Funktionen umfassen kann. Neben der Herstellung familiärer Zugehörigkeit und Identität lassen sich etwa didaktische, karrierestrategische und ökonomische Motivationen ausmachen, die im Vortrag veranschaulicht werden sollen. Die Zusammenarbeiten sollen nicht zuletzt auch auf ihr Verhältnis zur (ggf. kollektiven) Autorschaft der Werke befragt werden, denn zwischen familiär produzierten Werksammlungen und musikalischer Autorschaft erscheint sich ein offenes Spannungsfeld zu ergeben, dass Komponisten, Herausgeber und Drucker im späten 16. Jahrhundert unterschiedlich zu nutzen wussten.
Roman Lüttin studierte Musikwissenschaft und Kulturmanagement an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sein Masterstudium schloss er 2021 mit einer Arbeit zu Gioseffo Zarlinos erstem Motettendruck ab. Während des Studiums arbeitete er als Hilfskraft und Tutor am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena sowie in der Redaktion der TONKUNST. Seit Oktober 2021 ist Roman Lüttin akademischer Mitarbeiter von Prof. Dr. Christiane Wiesenfeldt am Musikwissenschaftlichen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, wo er an einem Dissertationsvorhaben zu „Kollaborativem Komponieren in der Frühen Neuzeit“ arbeitet; seit April 2023 ist er Mitarbeiter im gleichnamigen DFG-Projekt. Seine Forschungsinteressen umfassen die Musik des 16. Jahrhunderts, die Geschichte der Musiktheorie sowie Musik und Liturgie.