Erleben klassischer Konzerte in physikalischer Co-Präsenz von Musizierenden und Publikum versus digital im Stream

Martin Kreuzer M. Ed. (Technische Universität Dortmund / Fakultät Kunst- und Sportwissenschaften / Institut für Musik und Musikwissenschaft)

Schon vor der COVID-19 Pandemie war allgemein bekannt, dass ein „Live“-Konzert nicht mehr unbedingt die physische und simultane Anwesenheit von Musizierenden und Publikum am gleichen Ort voraussetzt. Doch wie wird die Konzerterfahrung durch verschiedene, und mitunter durch neue Technologien ermöglichte, Raum-Zeit-Verhältnisse beeinflusst?
Verschiedene Konstellationen der körperlichen Co-Präsenz in Bezug zur Zeitdimensionen („Liveness“) wurden in Modell bereits erfasst. Technologische Neuerungen brachten kontinuierlich neue Liveness-Szenarien in der Praxis hervor, welche immer wieder Modellaktualisierungen und Diskussionen um den Liveness-Begriff zur Folge hatten.  

In der vorliegenden Studie werden nun mittels empirischer Methoden zwei Szenarien-Gegenpole von Liveness im entsprechenden Konzertformat komparativ betrachtet.
Das wesentliche Ziel dieser Studie ist, erste Daten zum Konzerterleben in den beiden beschriebenen Szenarien zu erheben und im Hinblick auf vor allem folgende Frage zu analysieren: Sind Konzerte in physikalischer Co-Präsenz emotional erregender als ihre on-demand Stream-Version?

Eine Gesamtstichprobe von N=244 Proband*innen erlebte entweder ein konventionelles Live-Konzert im Modus der physikalischen Co-Präsenz (n=122) oder einen on-demand Konzert-Stream zu Hause auf einem eigenen Wiedergabegerät nach Wahl (n=131). Das Konzertprogramm (65–75min, Streichquintette von Beethoven, Dean und Brahms) sowie das Ensemble (professionelles Streichquintett) blieben in beiden Formaten jeweils unverändert. Vor und nach den Konzerten wurden Fragebogendaten erfasst. Die Bögen setzten sich hauptsächlich aus validierten Item-Batterien zusammen, wie etwa PANAVA, enthielten aber auch selbstgewählte post-Konzert-Attribute.
Die bisherigen, frühen Analysen (Hauptkomponentenanalysen + MANOVAs) zeigen, dass das on-demand Stream-Konzert in verschiedenen Aspekten weniger intensiv erlebt wurde (insbesondere im Hinblick auf Immersion und sozialer Verbundenheit).

Dies ist eine der ersten Studien überhaupt, die empirisch-vergleichend Unterschiede im Erleben von Konzerten in physikalischer Co-Präsenz versus digitaler on-demand Streams belegen. Damit liefert sie u.a. wichtige Anhaltspunkte im Hinblick auf die Zukunft des klassischen Konzerts.

 

Martin Kreuzer, M. Ed., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Musik und Musikwissenschaft (Arbeitsbereich systematische Musikwissenschaft - Dortmund Systematic Musicology Lab) der Technischen Universität Dortmund. Er studierte dort zuvor das Lehramt für Gymnasien und Gesamtschulen mit den Fächern Musik und Sport. Momentan promoviert er zum Thema „Music in the moment“, wo verschiedene Raum- und Zeitaspekte des Erlebens von Live-Musik empirisch erforscht werden. Während der Promotion war er zwischenzeitlich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften im Bereich der Unterrichtsentwicklungsforschung mit dem Schwerpunkt Inklusion. Zusätzlich ist oder war er als Musiker, (Instrumental-)Lehrer und Kurator für Streaming-Content (takt1.de) tätig.

Melanie Wald-Fuhrmann, geboren 1979, aufgewachsen in Schwerin. Von 1997 bis 2002 absolvierte sie ein Studium der Musikwissenschaft und altgriechischen Philologie in Rostock, Marburg, Salzburg und an der FU Berlin. 2003 bis 2010 war sie am musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann als Assistentin und Oberassistentin. Dort erlangte sie 2005 die Promotion mit einer Arbeit über Athanasius Kirchers „Musurgia universalis“ und habilitierte 2009 zum Thema der Melancholie in der Instrumentalmusik um 1800. 2010/11 wirkte Melanie Wald-Fuhrmann als Professorin für Musikwissenschaft an der Musikhochschule Lübeck, 2011 bis 2013 als Professorin für Musiksoziologie und historische Anthropologie der Musik an der Humboldt-Universität Berlin. Seit 2013 Wissenschaftliches Mitglied und Direktorin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik.

Martin Tröndle (*1971, Schwenningen) ist seit 2015 Inhaber des WÜRTH Chair of Cultural Production an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Der Lehrstuhl wird durch die WÜRTH Stiftung und den Stifterverband der Deutschen Wissenschaft getragen.
Seit 2018 leitet er ECR – Experimental Concert Research (experimental-concert-research.org). Das Forschungsprojekt untersucht das Konzerterleben und wird durch die VolkswagenStiftung gefördert; seit 2008 leitet er  eMotion – mapping museum experience (mapping-museum-experience.com), gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds. Im Auftrag der Alfred Toepfer Stiftung kann er seit 2008 Concerto21 – Konzerte für die Gegenwart jährlich durchführen.
Martin Tröndle ist Geschäftsführender Herausgeber (gemeinsam mit Steffen Höhne) der begutachteten „Zeitschrift für Kulturmanagement: Kunst, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist unter anderem der Herausgeber der Bände Das Konzert (2011) und Das Konzert II (2018) mit denen er das Forschungsfeld der Concert Studies begründen möchte. Er hat zudem in mehreren internationalen peer-review Journals publiziert und verschiedene Auszeichnungen für seine Arbeit erhalten dürfen.
Mit Hilfe des Fellowship „Exzellenz in der Lehre“ des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft und der Baden-Württemberg Stiftung konnte Tröndle einen halbjährigen Feldaufenthalt im Bereich der Lehrforschung als Visiting Professor an der School of the Art Institute of Chicago, HEC Montreal, MIT Cambridge, Ohio State University, NYU, University of Warwick sowie am Goldsmiths College London wahrnehmen.
Martin Tröndle war vor seiner universitären Laufbahn unter anderem Manager der ersten Biennale Bern (1999-2002) und Referent für Musik am Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (2006-8).
Er ist als Experte in unterschiedliche Beratungsprojekte im Bereich Kulturpolitik, Kulturberatung, Strategiefindung und Change Management sowie Besucherforschung eingebunden.


Hauke Egermann absolvierte ein Studium der Systematischen Musikwissenschaft, Medienwissenschaft und Kommunikationsforschung (MA 2006, Hochschule für Musik und Theater Hannover). Anschließend studierte er Neurowissenschaften (PhD in Musikpsychologie/Neurowissenschaften 2009, Zentrum für Systemische Neurowissenschaften Hannover). Er war Postdoctoral Research Fellow am Centre for Interdisciplinary Research in Music Media and Technology (2009-2011, McGill University, Montreal, Kanada). Von 2011 bis 2015 lehrte und forschte er an der Audio Communication Group (Technische Universität Berlin). Im Jahr 2015 war er Visiting Research Fellow am Center for Digital Music, Queen Mary, University of London. 2016 wurde er im Fach Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin habilitiert. Seit 2016 war er zunächst Assistant Professor (Lecturer), dann Associate Professor (Senior Lecturer) am Department of Music, University of York, UK. Hier gründete und leitete er die York Music Psychology Group. Seit 2021 hat Hauke Egermann eine Universitätsprofessur für Systematische Musikwissenschaft am Institut für Musik und Musikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund inne.