Doppelsymposium der Fachgruppen "Soziologie und Sozialgeschichte der Musik" und "Frauen- und Genderstudien"
Teil 1: Musikalisches Material und Materialität im Posthumanismus (FG Soziologie und Sozialgeschichte der Musik)
In den letzten beiden Jahrzehnten ist der wissenschaftliche Umgang mit musikalischem Material und musikalischen Praktiken in nicht geringer Weise von posthumanistischen und Anthropozentrismus-kritischen Sichtweisen getragen worden, die eine Dezentrierung des menschlichen Subjekts zugunsten von Dekonstruktion (Derrida), Diskursen (Foucault) und nicht-menschlicher Aktant:innen und ihren Vernetzungen (Latour) beinhalten. Ein zentraler Punkt posthumanistischen Denkens scheint in der Neukonzeption von Materialität und musikalischem Material im Spannungsfeld von Subjekt-Objekt-Konstruktionen zu liegen. Was Adorno zwischen „Fortschritt“ und „Geschichtlichkeit“ situiert, wird in Latours Modernekritik in seiner Objektivität hinterfragt.
Auf dem Symposion der Fachgruppe Musiksoziologie und Sozialgeschichte der Musik werden posthumanistische Verständnisse und Umgangsweisen mit musikalischem Material anhand konkreter Fallbeispiele untersucht. Dabei kommen auch Unterschiede und Gemeinsamkeiten der deutschen und französischen Forschungskulturen zur Sprache, denen jeweils eigene Konzepte von Humanismus und Material bzw. Materialität zugrunde liegen. Da das Thema Posthumanismus zwischen musikalischem Material, Natur und Digitalem auch für Ansätze der Geschlechterforschung relevant ist, soll das Symposion als Doppel-Panel mit der Fachgruppe Frauen- und Gender Studien stattfinden.
Programm:
9.15–9.30 Begrüßung und kurze Einführung in die Thematik durch die Fachgruppensprecherinnen, Cornelia Bartsch, Corinna Herr
9.30–10.00 "Eine posthumanistische Geschichte der Musik? Latour und Arendt gegen Adorno gelesen", Gesa zur Nieden
Gesa zur Nieden beschäftigt sich mit der Frage, wie eine posthumanistische Geschichte der Musik aussehen kann und bringt dafür Bruno Latours Kollektive mit Hannah Arendts Thesen zur Pluralität und Weltlichkeit zusammen. Dabei geht es vor allem um die Frage, welche Rolle die Abgrenzung vom Musikbegriff der kritischen Theorie dabei spielt, die Geschichtlichkeit des musikalischen Materials zu verändern.
10.00–10.30 "Musiksoziologie der Hybride, oder: Wir sind immer posthuman gewesen", Wolfgang Fuhrmann
Wolfgang Fuhrmann entwirft in seinem Beitrag eine „Musiksoziologie der Hybride“ und stellt die These auf, dass es sich durch die Vermischung von musikalischer Materialität – Klangerzeugern, Aufschreibesystemen usw. – und Handlungen menschlicher Aktant:innen bei der Musikgenese wie auch bei der Perzeption bei Musik um ein Hybrid im Sinne der von Bruno Latour in seiner Schrift Wir sind nie modern gewesen (1991) aufgestellten Definition handelt.
10.30–11.00 Kaffeepause
11.00–11.30 "Material oder Akteur? Nicht-menschliche Tiere in der zeitgenössischen Musik", Susanne Heiter
Die Verschiebung des Verhältnisses von Akteur:innen und Material in Kompositionen, die Tierlaute verwenden oder nachahmen und dadurch eine Dezentrierung des Menschen im posthumanen Sinne bei der Musikgenese befördern und der Restitution der anthropologischen Differenz im Bereich der Musik Vorschub leisten, ist das Thema von Susanne Heiters Vortrag.
11.30–12.00 "Künstliche Menschen und ihre Stimmen: von Olympia zu Hatsune Miku", Corinna Herr
Corinna Herr befasst sich mit „Cyborg“-Konzeptionen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert und deren theoretischen Hintergründen. Dabei betrachtet sie u.a. die singende Puppe Olympia aus Jacques Offenbachs Les Contes d’Hoffmann und „Hatsune Miku“, das prominente Stimmsample für den Gesangssynthesizer "Vocaloid2" der Firma Yamaha und befragt dazu Roland Barthes’ Material-Begriff.
12.00–12.30 "'Distributed Creativity'. Tonaufnahmen und ihre Aktant:innen", Karin Martensen
Karin Martensens Beitrag wird sich dem Verhältnis von Mensch und Technik im Tonstudio aus technikanthropologischer Sicht annähern und im Sinne von Latours Akteur-Netzwerk-Begriff den gesamten (kulturellen) Prozess einer Tonaufnahme im Sinne eines doing technology beschreiben.
Teil 2: non_binäre resonanzen. sound und gender im posthumanismus (FG Frauen- und Genderstudien)
Wie klingt ein nonbinäres Subjekt? Was verbindet die Kulturgeschichte eines aussterbenden Pilzes oder das Internet der Dinge mit Musik? Was hat der ökologische Begriff der Assemblage mit polyphonem Hören zu tun? Ökofeministische und anthropozentrismus-kritische Forschungen der letzten Jahre (Haraway, Tsing, u.a.) weisen, indem sie solche Fragen aufwerfen, eine auffällige Affinität zu Klang, Musik und Hören auf. Zugleich deutet die Relektüre französischer Theoretiker:innen (Cixous, Irigaray, Kristeva), deren Schriften in den 1980er Jahren grundlegend für die Geschlechtertheorie wurden, auf Kontinuitäten hin: Die Stimme und die (klingende) Spur des Körpers im Text wurden ins Spiel gebracht, um auf die Konstituierung des intelligiblen Subjekts durch ein ausgeschlossenes „Weibliches“ hinzuweisen. Das Lauschen auf den „Körper im Text“ (Barthes) fungierte hierbei als Methode zur Dezentrierung und Dekonstruktion des Subjekts, zur Aufhebung fixer Subjekt-Objekt-Verhältnisse und lenkte den Fokus auf das Mater|ial und seine Einschreibungen.
Vor diesem Hintergrund fragt das Panel der Fachgruppe Frauen- und Genderstudien nach Musik und Sound im Posthumanismus. Haben sich Musik/Sound nicht schon immer einer Einordnung in Semantisierungsmuster und damit einer Logik des Binären entzogen? Etwa wenn Klang/ Hören über traditionelle Subjektstrukturen und die Grenzen des Human(istisch)en hinausdenken; wenn ökofeministische Diskurse auf das Potenzial alter und neuer Musiken jenseits von Dur und Moll verweisen; wenn Klangkulturen jenseits von ›U‹ und ›E‹ das Ohrenmerk auf ökologische Netzwerke lenken; oder wenn fluide Medien xenofeministische Futures imaginieren?
Mit dem kritischen Posthumanismus wird nonhuman agency lautbar und das humanistische Mensch- und Musikverständnis zur Disposition gestellt. Er berührt gleichermaßen Fragen von Subjektivität und Geschlecht sowie Fragen nach der Grenze zwischen Menschen und Dingen, Mensch und Natur, Mensch und Maschine. Was ist hörbar, was bleibt unhörbar? Gibt es Spuren des Unhörbaren im Klang? Wenn die binäre Logik von Eins und Null das Digitale repräsentiert – wird dann das Nonbinäre im und mit dem Postdigitalen denk- und hörbar?
Programm:
14.00–14.30 "Von Irigaray und Cixious zu Haraway und Tsing? Transnationale öko/feministische Perspektiven auf Material und Assemblage, Klang und Musik", Cornelia Bartsch
Cornelia Bartsch befasst sich mit der Rolle von Klang und Musik für die De/Konstruktion des Subjekts im französischen Poststrukturalismus und in gegenwärtigen ökofeministischen Diskursen und nimmt insbesondere Brüche und Kontinuitäten im Umgang mit dem Begriff des Mater|ials in den Blick.
14.30–15.00 "Zwischen Sichtbarkeit und Verfügbarkeit. Das non-binäre Momentum der Archivologie", Sigrid Nieberle
Indem sie nach dem Unterschied zwischen Sichtbarkeit bzw. Hörbarkeit und Verfügbarkeit fragt, wird Sigrid Nieberle an einem Fallbeispiel die Vergeschlechtlichung des Archivs bzw. Gender in der Archivologie analysieren.
15.00–15.30 "Klagende Robben. Über Ecological Sound Art und das Problem der Anwaltschaft", Jonas Spieker
Jonas Spieker zeigt am Beispiel von Jana Winderens Spring Bloom in the Marginal Ice Zone, wie Soundscape-Kompositionen kritisch-posthumanistische Lesarten des Naturbegriffs eröffnen und diskutiert deren Konsequenzen für den rechtlichen wie ästhetischen Subjektstatus von Bartrobben.
15.30–16.00 Kaffeepause
16.00–16.30 "Von Kontrapunktkompost und biodiversen Gesellschaftstänzen. Umwelt- und cyberfeministische Konzepte im zeitgenössischen Musiktheater", Johanna Danhauser
Anhand von Sivan Eldars Like flesh und Archipel von Brigitta Muntendorf/Stephanie Thiersch/Sou Fujimot erörtert Johanna Danhauser, inwiefern öko- und cyberfeministische Diskurse im zeitgenössischen Musiktheater Eingang finden und welches sinnlich-musikalische Potential diese bereithalten.
16.30–17.00 "QUEER FUTURES – Xenofeministische Perspektiven für eine nonbinäre Zukunftsmusik", Anna Schürmer
Anna Schürmer fragt nach den spekulativen Potenzialen ›Neuer Musik‹ für eine nonbinäre Klangzeit. Am Beispiel von Die Flexibilität der Fische (Seidl/Neft 2022) und Neo Hülckers Musikinstallationen lenkt sie, angelehnt an Diskurse und Praktiken des ›Xenofeminismus‹ (Hester 2018), das Ohrenmerk auf Queer Futures und die medienästhetische Dekonstruktion von Ton-, Menschen- und anderen Geschlechtern.
17.00–17.30 Diskussion