Aktuelle Forschungen zur Kirchenmusik: Das DFG-Netzwerk 'Religion im Plural

Aktuelle Forschungen zur Kirchenmusik: Das DFG-Netzwerk "Religion im Plural. Wahrnehmung religiöser Differenzierung im Spiegel der Künste, Theologien und Gesellschaft im langen 19. Jahrhundert“

Symposium der Fachgruppe Kirchenmusik in Kooperation mit dem DFG-Netzwerk "Religion im Plural“

Das diesjährige Symposium der Fachgruppe Kirchenmusik nimmt ein aktuelles Forschungsprojekt in den Blick: Das DFG-Netzwerk „Religion im Plural“ untersucht in interdisziplinärer Perspektive, wie die zunehmende religiöse Differenzierung im langen 19. Jahrhundert in bildender Kunst, Musik, Architektur, Theologien, religiöser Praxis und gesellschaftlichen Institutionen gestaltet, artikuliert und gedeutet wurde. Religion wird darin sowohl als institutionell-kollektive wie auch als spirituell-individualisierte Religiosität verstanden, wobei sie nicht nur auf den Rahmen der katholischen und protestantischen Kirchen und des Judentums beschränkt bleibt, sondern auch hinsichtlich anderer religiöser, philosophischer und weltanschaulicher Formationen perspektiviert wird. Die Expertisen der 16 Mitglieder liegen in der Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft, evangelischer und katholischer Theologie sowie Jewish Studies. Im Rahmen des Fachgruppensymposiums werden fünf Projekte aus der Systematischen Theologie und Musikwissenschaft vor und zur Diskussion gestellt.

Programm:

9.00 Begrüßung
         "Einführung und Vorstellung des DFG-Netzwerks „Religion im Plural“, Maren Bienert (Hildesheim), Tobias C. Weißmann (Mainz)

9.30 "Musikwahrnehmung als Medium von Theologiepolitik und Religionstheorie. Perspektiven in der protestantischen Theologie um 1900", Maren Bienert (Hildesheim)

Die Zeit um 1900 ist geprägt von zahlreichen Religionsdefinitionen und theologischen Richtungsdebatten. Diese spiegeln sich nicht zuletzt in den unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen zu Musik und Kunst. Wie konzipiert der gelehrte und akademische Protestantismus der Jahrhundertwende Musik in Bezug auf das Christentum, Religion und Frömmigkeit? Die Wahrnehmungsmuster evangelisch-theologischer Musikrezeption und -theorie geben Aufschluss darüber, welche Selbstverständigungen, Differenzierungen und Vereindeutigungen über diese Bande gespielt wurden. Dabei geraten vornehmlich Rezensionen und theologische Lexika in den Blick.

Maren Bienert ist Professorin für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Universität Hildesheim. Ihre Forschungsinteressen liegen besonders in der Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Gemeinsam mit Tobias Weißmann (Mainz) leitet sie das DFG-Netzwerk „Religion im Plural“.

10.00 "Das 'Deutsche Gesangbuch für Israeliten' von Josef Johlson. Eine musikwissenschaftliche Annäherung", Irene Holzer (München)

1816 veröffentlichte der jüdische Reformpädagoge und Theologe Josef Johlson ein Gesangbuch in deutscher Sprache, welches er zur Verwendung in einer „samstäglichen Andachtsstunde“ für seine Schüler zusammengestellt hatte. Inhaltlich nach religiösen Themen und Jahreszeiten geordnet, ergänzte dieses Schulliederbuch als Band 2 das bereits 1814 publizierte Lehrwerk Unterricht in der Mosaischen Religion und zeugt darin vom unbedingten Reform- und Assimilationswillen der Israelitischen Gemeinde von Frankfurt am Main, in dessen Bürger- und Realschule er seit 1813 tätig war: Die allgemeine Hinwendung zur deutschen Sprache sollte dabei sowohl die Andachten für christliche Besucher öffnen wie gleichzeitig die jüdischen Gläubigen zu „besseren Bürgern“ erziehen. Ganz dem Duktus einer aufgeklärten Pädagogik verpflichtet, verfasste Johlson im Schuldienst noch zahlreiche weitere einführende Lehrwerke, übersetzte Die Heiligen Schriften der Israeliten (Tôrâ nevî'îm û-ketûvîm) und gab 1840 sogar ein Biblisch-Hebräisches Wörterbuch heraus.

Innerhalb dieses stringenten Bildungsprogramms, das vorwiegend auf eine zeitgemäße, deutschsprachige Übersetzung und Auslegung des mosaischen Glaubens zielte, nahm das Deutsche Gesangbuch von 1816 eine eigentümliche Zwitterposition ein: Da Johlson offenbar weder über eine besondere musikalische Ausbildung verfügte, noch auf allgemein bekannte Vorbilder zurückgreifen konnte, kompilierte er sein Gesangbuch für Israeliten, indem er sowohl die Liedtexte wie auch deren Melodien aus dem Evangelischen Kirchengesang übernahm. Dieser Beitrag möchte in einer ersten Lesung der Quelle nachzeichnen, welche Intentionen Johlson mit der Zusammenstellung des Gesangbuches verfolgte und wie die Umsetzung als Schul- und Andachtsbuch innerhalb der jüdischen Reformbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurde.

Irene Holzer ist Professorin für Musikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie studierte Musikwissenschaft und Germanistik an der Universität Salzburg. Nach ihrer Promotion über Adrian Willaerts Messkompositionen im Jahr 2010 war sie als Lehrbeauftragte an den Universitäten Basel und Bratislava tätig. 2012 übernahm sie die Leitung des Mikrofilmarchivs am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel und war ebendort von 2013 bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am NCCR eikones. Von 2017 bis 2020 war sie als Juniorprofessorin für Historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der rituellen Musik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sowie in der Longue durée liturgischer Phänomene bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts.

10.30–11.00 Kaffeepause

11.00 "Die Geburt der 'absoluten Musik‘ aus dem Geiste der Kirchenmusik? Eine hörgeschichtliche Relektüre", Anne Holzmüller (Marburg)

Im Zentrum der Diskussion des musikhistoriographisch so zentralen, als Paradigmenwechsel beschriebenen Zeitraums „um 1800“ steht in der Regel die absolute Instrumentalmusik (v.a. Dahlhaus 1978). Eine hörphänomenologisch differenzierende Perspektive zeigt allerdings, dass die musik- und hörästhetischen Diskurse des anbrechenden 19. Jahrhunderts zu einem wesentlichen Teil auch aus der empfindsamen Auseinandersetzung mit Kirchenmusikästhetik erwachsen, die zurück ins 18. Jahrhundert weist und eine deutlich konfessionelle Signatur trägt (Heidrich 2001). Besonders sinnfällig wird die Verwobenheit von Kirchenmusik der romantischer Musikästhetik in den beiden vielleicht einschlägigsten musikpublizistischen Schriften E.T.A Hoffmanns, seiner Rezension der 5. Sinfonie Beethovens (1810) und seinem vier Jahre später erschienenen Aufsatz „Über alte und neue Kirchenmusik“ (1814). Der Vortrag wird diese und andere Schlüsseltexte einer Relektüre unter hörgeschichtlichen Vorzeichen unterziehen und dabei tradierte Oppositionen von vokaler und absoluter Musik neu hinterfragen.

Anne Holzmüller ist Qualifikationsprofessorin am Musikwissenschaftlichen Institut in Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen musikalische Hörgeschichte, Musik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts sowie der Liedforschung. Nach dem Studium der Schulmusik und Germanistik wurde sie 2014 promoviert mit einer Arbeit über Sprachklang in Lyrik und Liedvertonung des 19. Jahrhunderts. 2017–18 war sie als Junior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), 2011–12 Visiting Fellow am Music Department der Harvard University. In den Jahren 2017–2020 leitete sie das Forschungsprojekt „Muße und musikalische Immersionserlebnisse“ im SFB 1015 „Muße“ an der Universität Freiburg.

11.30"Von christlicher Heilsgeschichte und indigenem Kult. Repräsentationen des Religiösen in Kolumbus-Opern des langen 19. Jahrhunderts", Tobias C. Weißmann (Mainz)

Die (Wieder-)Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492 ist seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ein beliebtes Opernsujet. Schließlich bietet das epochemachende Schlüsselereignis mit der gefahrenvollen Seefahrt über den atlantischen Ozean und der abenteuerlichen Erkundung und Eroberung einer exotischen neuen Welt einen attraktiven Plot, der zahlreiche Komponisten zu Bühnenwerken herausgefordert hat: von Bernardo Pasquini (1690) über Francesco Morlacchi (1828), Richard Wagners „Columbus-Ouvertüre“ (1835) und Alberto Franchetti (1892) bis hin zu Darius Milhaud (1930) und Philipp Glas (1992).

Während die Geschichtswissenschaft und die Postcolonial Studies die wirtschaftlichen Eigeninteressen des Entdeckers im Einklang mit den Zielen der iberischen Konquistadoren herausgestellt haben und indigene Initiativen Kolumbus für das Massensterben der Hispaniolas auf den Karibischen Inseln verantwortlich machen, den Seefahrer gar zum Wegbereiter eines Genozids proklamieren, zeichnen die Bühnenwerke des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts das Bild eines heldenhaften Weltenseglers und von Visionen angetriebenen Missionars. Die Stimmen und Geschichten der Ureinwohner*innen wurden hingegen weitgehend marginalisiert. Von besonderem Interesse ist hierbei Alberto Franchettis Oper Cristoforo Colombo, die er 1892 anlässlich des 400. Jubiläums für Kolumbus‘ Geburtsstadt Genua komponierte. In deren Urfassung interpretiert er den Entdecker als tragische Figur und Heiligen in der Christusnachfolge und entwirft von den Taíno-Indianer*innen ein differenziertes Bild als Glaubensgemeinschaft und Opfer der spanischen Eroberer.

Allen Kolumbus-Opern des langen 19. Jahrhunderts gemein ist das Spannungsverhältnis von Macht, Kultur und Religion, das in diesem Vortrag in vergleichender Perspektive diskutiert werden soll. Welche Eigenschaften werden den christlichen Akteur*innen um Königin Isabella von Kastilien, Missionare und kirchliche Autoritäten zugeschrieben? Inwiefern werden die indigenen Völker als religiöse Gemeinschaft dargestellt? Wie wird deren Begegnung in Szene gesetzt und schließlich: Welche Rolle spielt die Musik bei der Charakterisierung der in der neuen Welt aufeinandertreffenden religiösen Formationen?

Tobias Weißmann ist seit 2018 als Postdoc im Forschungsprojekt „CANTORIA – Musik und Sakralarchitektur“ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig, zudem seit September 2023 an der Universität Zürich. Seine zwischen Musikwissenschaft und Kunstgeschichte angesiedelte Dissertation über die Festkultur der europäischen Mächte im barocken Rom (Humboldt-Universität zu Berlin 2018) wurde mit dem Rudolf Arnheim-Preis 2019, dem Hans Janssen-Preis 2022 und dem Premio Daria Borghese 2023 ausgezeichnet. Stipendien führten ihn an das Deutsche Studienzentrum in Venedig, das Deutsche Historische Institut in Rom, die Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte und das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte. 2020 wurde er von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz in die Junge Akademie berufen. Seit 2021 leitet er das interdisziplinäre DFG-Netzwerk „Religion im Plural. Wahrnehmung religiöser Differenzierung im Spiegel der Künste, Theologien und Gesellschaft im langen 19. Jahrhundert“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Musik- und Kunstgeschichte vom 15. bis 19. Jahrhundert, der Intermedialität von Musik, bildender Kunst und Architektur, der Kirchenmusik, der Emotionsforschung sowie der Digital Humanities.

12.00 "Zwischen Wahn, Hysterie, Leid und Erlösungsdenken – Frauenfiguren auf der Opernbühne im Vor- und Umfeld psychoanalytischer Erklärungsmodelle", Stefanie Acquavella-Rauch (Mainz)

Ob Lucia, Anna, Lucrezia, Mimì, Violetta, Kundry, Salome oder „eine junge Frau“ – wenn Frauenfiguren als Protagonistinnen auf der Opernbühne des 19. Jahrhunderts erscheinen, so tragen sie häufig nahezu pathologische Züge von Wahn, Hysterie und Leid. Das als idealtypisch kommunizierte zeitgenössisch-bürgerliche Rollenbild der Frau steht diesen psychologisch ausdifferenzierten, schillernden und doch letztlich scheiternden musiktheatralischen Antiheldinnen auf den ersten Blick diametral gegenüber – wodurch der dramatischen Zeichnung der Opernfiguren nachgerade warnende Funktion zuzukommen scheint (vgl. Reschke & Pollack 1992; Kronberger & Müller 2003). Losgelöst von christlich-religiösen Tugenden versinnbildlicht dies eine „Radikalisierung jenes allgemeinen Grundgefühls [einer] ‚sentimentale[n] Liebesreligion‘“ (Döhring 1976; 309), die parallel zu einer gesellschaftlichen Suche nach Erklärungsmustern für innerpsychologische Vorgänge festzustellen ist, wie sie letztlich beispielsweise in psychoanalytischen Modellen formuliert wurden.

Der Beitrag möchte nachzeichnen, wie im Laufe von rund 80 Jahren auf der Opernbühne Bilder einer imaginierten ‚inneren Natur‘ von Frauen transportiert wurden und welchem Wandel dies unterlag (Leopold & Speck 2000). Diese Ebene gilt es, in ihrer Narrativhaftigkeit zu dechiffrieren und mit tatsächlich kommunizierten diagnostischen Beschreibungen beispielsweise eines Siegmund Freuds abzugleichen. Kunst – im gewählten Fall das Musiktheater – übernimmt dabei quasi ex negativo die Funktion, angestrebte geschlechterbezogene Rollenbilder kulturell zu verankern, während zwischen Wissenschaft und Religion chargierende Erklärungsmodelle dieses im Alltag nachzeichnen und damit zur gesellschaftlichen Etablierung beitragen.

Stefanie Acquavella-Rauch ist Professorin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach ihrem Studium an der Philipps-Universität Marburg folgte 2008 die Promotion mit einer Arbeit zur Arbeitsweise Arnold Schönbergs ebendort. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im AdW-Projekt „OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters“, war sie von 2009 bis 2016 Akademische Rätin und Oberrätin am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold. Dort habilitierte sie sich 2016 mit der Arbeit „Musikgeschichten: Von vergessenen Musikern und ‚verlorenen‘ Residenzen im 18. Jahrhundert“. Ab 2016 war sie Juniorprofessorin für Musikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, zwischen 2016 und 2020 auch an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz. 2020 schlug sie einen Ruf der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen aus und nahm das Mainzer Bleibeangebot an. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Skizzen- und Kompositionsprozessforschung, der Methodologie der Musikforschung, der digitalen Musikwissenschaft und der musikalischen Praktiken im 18. Jahrhundert. Sie ist außerdem Mitherausgeberin der Reihe „Methodology of Music Research“ (Peter Lang International); ORCID-ID: 0000-0003-2743-7416.