Griechenland 2014/2015

Prof. Dr. Anthi Wiedenmayer

Thessaloniki ist eine Stadt mit langer Geschichte: 315 v. Chr. von Kassandros gegründet und nach seiner Frau Thessalonikē benannt, die wiederum eine Halbschwester Alexanders des Großen war und ihren Namen von ihrem Vater, Philipp II.,  bekam, als er gegen die Thessalier wahrscheinlich im Jahr 352 v. Chr. siegte (Nikē = Sieg). Als Hafenstadt der nördlichen Ägäis, Öffnung des Balkanraums zum Meer, direkt am Hauptverkehrsweg Via Egnatia, der beide Metropolen des spätantiken Römischen Reichs, Rom und Konstantinopel, verband, nahm es sich Jahrtausende lang als ein Palimpsest griechischer Geschichte wahr. Eine Stadt, in der Juden, Muslime und Christen jahrhundertelang mit ihren Sprachen, Religionen und Kulturen zusammenlebten. Eine kosmopolitische Stadt von Politikern, von Wirtschaft, von Intellektuellen, Händlern, Seeleuten, Arbeitern, Abenteurern, Flüchtlingen – politischer Morde.

1963, drei Tage nach der Ermordung von Grigoris Lambrakis, eines engagierten Pazifisten, Arztes und Politikers, dessen Leben als Vorlage für den Roman von Vassilis Vassilikos Z und danach für den gleichnamigen Film von Costa Gavras diente, wurde ich in Thessaloniki geboren. Vier Jahre später warf die Militärjunta ihren Schatten auf meine Grundschuljahre, erlaubte mir (!), täglich die Nationalhymne im Schulhof zu singen sowie in einer nie gesprochenen Kunstsprache (Katharevousa = Die Reine) meine ersten Aufsätze zu schreiben. Dabei waren mir Sprachen so wichtig, schon als Kind, das in einer Familie aufwuchs, in der die Oma noch deutsche Kinderlieder vorsingen konnte oder sich dann des Türkischen bediente, speziell wenn sie ihrer Cousine etwas insgeheim erzählte. Sie waren wohl zusammen mit den Booten aus Kleinasien gekommen, als 1923 der große Bevölkerungsaustauch zwischen der Türkei und Griechenland ca. 2.000.000 Menschen aufgrund ihrer Religionsidentität umsiedelte. Eine typisch griechische Oma, allerdings mit einem Vater aus Montenegro und mit einem Deutschen verheiratet, dessen deutsch-griechische Familie aus Griechenland nach Istanbul zog, ein paar Jahre nachdem  Otto, der erste König Griechenlands, nach 30-jähriger Regentschaft 1862 das Land verlassen musste. Ein Land, das damals halb so groß wie das heutige war, da der Norden – Epirus, Makedonien und Thrakien – und mehrere Inseln erst zu Beginn des 20. Jhd. allmählich ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erlangten.

Als ich nach dem 1974 erfolgten Junta-Sturz in die Deutsche Schule in Thessaloniki kam, war ich eines der wenigen griechischen Mädchen meiner Generation, das keine blaue Schuluniform mit weißem Kragen tragen musste – und dies in der wahrscheinlich einzigen gemischten Schule des ganzen Landes damals. Doch nicht nur Jungen waren da, sondern auch Lehrer, die z. T. lange – und sogar blonde! – Haare hatten, und mit denen wir eine über das übliche Schüler-Lehrer-Verhältnis hinausgehende Konfrontation eingehen konnten. Das berühmte Zitat von Goethe „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen“ konnten wir da – auch auf die gesamte Kultur übertragen – in täglicher Selbstverständlichkeit erleben.

So fiel mir im Oktober 1982 der Umzug nach Deutschland nicht besonders schwer, quer durch Jugoslawien und den Balkan brachte mich der Zug nach 2,5 Tagen nach Germersheim, damit ich an der Universität Mainz mein Studium der „Angewandten Sprachwissenschaft“ aufnehmen konnte. In der Bundesrepublik Deutschland kam zur gleichen Zeit Helmut Kohl an die Regierung und fing mit den ersten Sozialkürzungen an, während in der Deutschen Demokratischen Republik Erich Honecker die letzten Jahre seines Amtes ausübte. In Griechenland hatte ein Jahr zuvor Andreas Papandreou mit seiner sozialistischen Partei die Wahlen gewonnen, und bereits in Germersheim durfte ich auf einmal dank neuer griechischer Gesetze volljährig sein und wählen, obwohl ich noch keine 21 war. Man durfte zum ersten Mal standesamtlich heiraten und frau sogar ihren Mädchennamen behalten, das Zivil- und insbesondere das Familienrecht wurden radikal revidiert, die Geschlechtergleichheit offiziell eingeführt, Gesetze aus der Metaxas-Diktatur (1936–1940) und der Zeit nach dem Bürgerkrieg, der zwischen 1944 und 1949 das Land geteilt und verwüstet hatte, abgeschafft, und die politischen Flüchtlinge durften aus den osteuropäischen Ländern zurück in die Heimat. Griechenland war 1981 unter umstrittenen Bedingungen und vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in die Europäische Gemeinschaft eingetreten und die 1980er Jahre brachten einen frischen Wind ins Land, der jahrzehntelange Sehnsüchte stillte.

Die Welt veränderte sich und in Germersheim sprachen prominente Professoren, wie z. B. Hans J. Vermeer von Funktionalismus und Kommunikation in einem heutzutage fast nicht nachvollziehbaren subversiven Ton. Doch wir waren sehr mit unserem Leben beschäftigt, mit unseren Freunden aus allen möglichen Ländern und Kontinenten, mit denen wir zusammen lebten, studierten, feierten, arbeiteten und in die Welt reisten. Unter anderem ins Saarland, wo gute Freunde mir die ungewöhnliche Geschichte dieses – inzwischen wieder zu Deutschland gehörenden – Bundeslandes unermüdlich erzählten. Oder aber auch nach Spanien, wo ich ein Auslandssemester an der Universität von Granada verbrachte und mich mit den Bewohnern der Altstadt Albaicín anfreundete. Nach meinem Diplomabschluss als Übersetzerin für Spanisch und Englisch mit Trägersprache Deutsch – da Griechisch damals weder als Mutter- noch als Fremdsprache angeboten wurde – begann ich 1988 ein Aufbaustudium in München und besuchte Kurse, die die deutsch-griechischen Beziehungen oder die Frauenliteratur behandelten und die ich bis heute noch in lebendiger Erinnerung trage.

Nach einem Jahr kehrte ich nach Griechenland zurück und ein paar Wochen später fiel in Berlin die Mauer; ich verfolgte die turbulente Zeit im Fernsehen, im Radio und in der Presse und dachte dabei an meinen griffbereiten Koffer. Doch ich hatte schon eine feste Arbeit in einem deutsch-griechischen Busunternehmen und die Chance, die nächsten acht Jahre von dort aus den Wandel Griechenlands aus verschiedenen Perspektiven zu erleben. Das Geschäft blühte und ich war viel unterwegs – nach Deutschland, nach Ungarn, nach Spanien, nach Südkorea, zuständig für Auslandsbeziehungen und Marketing. Kommunikation und Interkulturalität in jeder Hinsicht.

In den 1990er Jahren war Griechenland ein optimistisches Land. Die Menschen atmeten nach Jahrzehnten der Armut und Marginalisierung zum ersten Mal auf, zum ersten Mal redeten sie über Umweltschutz und niedrige Bankzinsen – zum Teil auch an ihren neuesten Mobiltelefonen – reisten gern „nach Europa“ und brachten exotische Mitbringsel mit. Meine Freunde und ich arbeiteten viel, selten konnte man mit nur einem Job ein würdiges Leben finanzieren, probierten gerne jedes neue Lokal in der Stadt aus, rauchten gelegentlich Zigarren aus Cuba und fuhren Ski in schicken Outfits in den gerade eröffneten Skizentren.

Dann entsann ich mich meiner Jugendträume und promovierte über die Übersetzung von Poesie – und speziell die politischen und Liebesgedichte von Erich Fried – an der Athener Universität. Ich hatte mich bereits als Übersetzerin und Dolmetscherin selbstständig gemacht und ließ auch meine Tochter die Deutsche Schule besuchen. Sie liegt allerdings nicht mehr in der Stadt und am Meer, direkt gegenüber den Göttern des Olymps, die nun mit dem Alltagsbetrieb des Goethe-Instituts in den gleichen Gebäuden die Langeweile ihrer Ewigkeit genießen können. Die Schule, inzwischen eher ein Symbol des Establishments als des Umbruchs, war in moderne Gebäude in einen Vorort umgezogen. Thessaloniki wuchs nämlich schnell, zum einen wegen der anhaltenden Landflucht innerhalb eines stark zentralisierten Staates, und zum anderen wegen der Flüchtlingsströme aus Albanien, Georgien, Asien und Afrika, die die Stadt im neuen Jahrtausend zu einem Ballungszentrum mit über einer Million Einwohnern wachsen ließen. 

Schließlich nahm ich den Ruf der deutschen Abteilung der Philosophischen Fakultät an der Aristoteles Universität in Thessaloniki für eine „Lecturer“-Stelle für Translationswissenschaft an, und somit wurde mir der Weg in ein neues Leben ermöglicht, das durch seine Intensität alles bis dahin Bekannte überschattete. Das tägliche Zusammenleben mit jungen Menschen, die Herausforderung der Forschung, die Auseinandersetzung mit administrativen Aufgaben füllen meinen Alltag immer noch – inzwischen als Assistenzprofessorin. Nach zwei Semesteraufenthalten an der Freien Universität Berlin im Institut für Neogräzistik habe ich nun die ehren- und verantwortungsvolle Stelle an der Universität des Saarlandes angenommen, um mein Land und meine Landsleute in einer Zeit zu vertreten, der jeglicher Hauch von Optimismus und frischem Wind fehlt.

 
Lehrveranstaltungen von Prof. Dr. Anthi Wiedenmayer 2014/2015

Wintersemester 2014/15

 

Sommersemester 2015

DAAD-Projekt "Deutsch-griechische Begegnungen in der Industrie und Literatur"

Im Rahmen des Programms "Hochschuldialog mit Südeuropa 2015/16" des DAAD wird das Kooperationsprojekt "Deutsch-griechische Begegnungen in der Industrie und Literatur" der Universität des Saarlandes (Prof. Dr. Anthi Wiedenmayer/Gastprofessur Europaicum) und der Aristoteles Universität Thessaloniki (Ass. Prof. Dr. Katerina Zachu/Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur) gefördert.

Anlass dafür ist die Zuspitzung gegenseitiger stereotypischer Wahrnehmungsbilder in der griechischen und deutschen Öffentlichkeit, die im Schatten der griechischen Finanzkrise stattfindet und trotz der vielfältigen langjährigen Beziehungen der beiden Länder inzwischen seit Jahren fortgesetzt wird.

Das Projekt zielt auf eine interdisziplinäre, wissenschaftliche fundierte Analyse von Daten, welche die deutsch-griechischen Beziehungen speziell im Bereich der Wirtschaft (Industrie) und Kultur (Literatur) zurückverfolgen und dokumentieren. Am Projekt beteiligt ist die FR 4.6 Angewandte Sprachwissenschaften sowie Dolmetschen und Übersetzen der Universität des Saarlandes mit einem Blockkurs zur Industriegeschichte in der Großregion von Dr. Andrea Wurm.

13 Studierende der Gastprofessur Europaicum arbeiteten gemeinsam mit Studierenden der Aristoteles Universität Thessaloniki an vier verschiedenen Projektthemen. Die Ergebnisse wurden vom 20.06.–27.06.2015 in Workshops erarbeitet und auf einer Tagung an der Aristoteles Universität präsentiert.

Das Projekt beinhaltet folgende Themenbereiche:

  • Das Erbe der deutschen Industrie in Thessaloniki
  • Mikrogeschichten deutscher Migranten in Nordgriechenland und griechischer Migranten im Saarland
  • Griechische Literatur in deutscher Sprache
  • Das heutige Griechenland durch die Augen deutscher Autor/innen

Kontakt

Prof. Dr. Anthi Wiedenmayer
Aristoteles Universität Thessaloniki
Philosophische Fakultät
Abteilung für Detusche Sprache und Philologie
Postfach 82
GR-54124 Thessaloniki
Tel.: 0030-2310-997114
E-Mail: antwie@del.auth.gr