Niederlande 2013/2014
Prof. Dr. Jacco Pekelder
1967 wurde ich im Nordosten der Niederlande geboren und bin im ostniederländischen Landkreis Twente, nah an der deutschen Grenze, aufgewachsen.
Nach dem Abitur 1986 studierte ich sechs Jahre Geschichte, insbesondere die Geschichte der internationalen Beziehungen, an der Universität Utrecht, die Stadt in der Mitte des Landes, wo ich seither auch fast ohne Unterbrechung gelebt habe. Ende 1992 schloss ich das Studium mit einer Magisterarbeit über die niederländischen Wahrnehmungen der preußischen Innen- und Außenpolitik unter Bismarck 1862–1871 ab. Anschließend arbeitete ich an der gleichen Universität als Doktorand und schrieb eine Dissertation über das niederländische Verhältnis zur DDR (2002 auf Deutsch erschienen als Die Niederlande und die DDR. Bildformung und Beziehungen 1949–1989, Agenda Verlag, Münster).
In dieser Zeit machte ich auch meine ersten Erfahrungen mit der universitären Lehre. Außerdem besuchte ich zum ersten Mal das Saarland: Zwischen 1996 und 1998 nahm ich an den damals renommierten jährlichen DDR-Forscher-Tagungen in der Europäischen Akademie Otzenhausen teil.
Die Promotion fand dann 1998 statt. Kurz danach wechselte ich die Universität. Ich wurde Forscher am Zentrum für Parlamentarische Geschichte der Universität Nimwegen (CPG), wo ich drei sehr schöne Jahre der Zusammenarbeit erlebte, aber zu meinem Bedauern nur wenig mit der deutschen Geschichte zu tun hatte, da wir vor allem über die niederländische Innenpolitik der 1950er Jahren publizierten. Das änderte sich dann 2002, als ich Forschungskoordinator des Deutschland-Instituts an der Universität von Amsterdam wurde. Das war eine sehr abwechslungsreiche Position, in der ich nicht nur allerhand Forschungsprojekte betreute, sondern auch immer mehr in der Lehre aktiv wurde und dazu noch mitverantwortlich für das vom niederländischen Bildungsministerium geförderte nationale Deutschlandprogramm für das Hochschulwesen war. In dieser Zeit entwickelte ich einen neuen Forschungsschwerpunkt: politische Gewalt und Terrorismus, insbesondere der Linksterrorismus in der Bundesrepublik der 1970er Jahre. Vor allem interessiert mich die Rezeption der Gewalttaten der "Roten Armee Fraktion" und ähnlicher Organisationen durch das breite alternative Milieu der radikalen Linken und was dies für die Position der Linken in der Konfrontation Terrorismus-Staat bedeutete. Seit einiger Zeit schreibe ich an einem englischsprachigen Buch über dieses Thema.
Ende 2007 kehrte ich dann schließlich wieder zur Universität Utrecht zurück. Seitdem bin ich "Universitair Docent" (Assistant Professor mit unbefristeter Stelle) in der Abteilung Geschichte der internationalen Beziehungen. Ich habe da das volle Lehrprogramm eines Hochschullehrers: Vorlesungen über das 20. Jahrhundert und über Geschichtstheorie und Seminare über politische Gewalt, die Umwälzungen der Weltpolitik seit dem 18. Jahrhundert und die Rolle Deutschlands in Europa seit 1990. Als zweiten Strang meiner Forschungsarbeit, neben politischer Gewalt, erforsche ich in Utrecht auch die niederländisch-deutschen Beziehungen und das Verhältnis zwischen Deutschland und Europa, insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges. Im Moment arbeite ich in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Niederlande-Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster an einem kleinen Buch über die Niederlande und Deutschland seit etwa 1995. Im akademischen Jahr 2010–2011 genoss ich eine kleine Pause des Lehrbetriebs als Fellow des Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS), wo ich als Mitglied einer kleinen, internationalen Forschergruppe spektakuläre Gerichtsverfahren gegen Terroristen studierte. Die eigene Arbeit handelt über den Stammheim-Prozess gegen Andreas Baader und die weitere Führung der Roten Armee Fraktion. Der Sammelband wird demnächst erscheinen.
Außer dieser wissenschaftlichen Biographie verbindet mich mit Deutschland noch das Gefühl der geheimnisvollen Nähe. Deutschland ist uns Niederländern nah und fern zugleich: Die Deutschen ähneln uns, und sind doch anders. Das amüsiert oft und irritiert auch manchmal. Ich allerdings finde es interessant, die Grautöne des Unterschieds zwischen den Nachbarn zu entdecken, aufregender als ganz offensichtliche Unterschiede, die uns von Staaten und deren Einwohnern in weiter Ferne absetzen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich nah an der Grenze aufgewachsen bin. Ein niederländischer Komiker nannte die Gegend einmal "den rustikalen Westteil Deutschlands", als hätte man die Grenze etwa fünfzig Kilometer nach Westen verlegt. Es ist wahr, dass die Mentalitäten der Menschen an beiden Seiten der deutsch-niederländischen Grenze sich ähneln, wie auch die Mundart, die dort oft dem Plattdeutschen sehr ähnlich ist. Seitdem ich mich mit Deutschland beschäftige, fragt man mich manchmal, ob ich denn Deutscher sei, was nicht mit den Tatsachen übereinstimmt. Früher hat man meinen Akzent aber eher mit dem Dialekt der Grenzregion assoziiert, was ich nicht leugnen kann. Deutschland war also immer nah, sei es wegen der traumhaften Spielzeugkataloge, die uns aus einer benachbarten Einkaufsstadt an der deutschen Seite der Grenze erreichten, oder wegen des deutschen Fernsehens, das wir uns schon immer mithilfe einer Antenne anschauen konnten, bevor das Kabelfernsehen es überall in den Niederlanden in die Wohnzimmer brachte: Die Sendung mit der Maus und die Winnetou-Sendungen im ZDF waren bei mir und meinen Mitschülern ungeheuer populär.
Deutschland spielte in den Niederlanden auch eine bedeutende Rolle wegen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Seit den späten 1960er Jahren wurde "de oorlog" in der öffentlichen Debatte und der populären Kultur in den Niederlanden immer mehr präsent. Als Student in den frühen 1990er Jahren erregte das bei mir eine große Neugierde auf dieses Land, aber vielleicht in einem Versuch, mich von der vorherrschenden Kultur zu unterscheiden, studierte ich andere Teile der deutschen Geschichte: Preußen und die deutsche Einheit im 19. Jahrhundert. Als Doktorand rückten dann die DDR und Deutschland im Kalten Krieg ins Visier, aber das habe ich ja bereits erzählt. Saarbrücken wird wieder ganz andere, teils neue Schubladen meiner Deutschland-Faszination füllen und zu gleicher Zeit freut es mich, vielleicht den einen oder anderen Student der Universität des Saarlandes mit einer Faszination für die Niederlande zu infizieren...
2013 ist in den Niederlanden an erster Stelle natürlich das Jahr der Inthronisierung des neuen Königs Willem Alexander. 2013 feiern die Niederlande aber auch 200 Jahre Königreich. Nach der Niederlage des napoleonischen Frankreichs 1813 wurde der damalige Stammhalter der Oranien-Nassau-Dynastie, ein ferner Vorfahre des neuen Königs, zuerst als souveräner Prinz und dann 1815, nach dem Wiener Kongress, als König Willem I. inthronisiert.
Willem I. war übrigens nicht der erste König der Niederlande: Louis Napoleon, ein Bruder des großen Napoleons, ging ihm voraus, als 1806 das Königreich Holland, ein französischer Vasallenstaat, kreiert wurde. Bereits 1810 wurde er von seinem Bruder aber wieder abgesetzt. Holland wurde ein Teil Frankreichs, bis es 1813 von den Russen befreit wurde.
König Willem regierte übrigens ein Land, das zweimal so groß war wie die heutigen Niederlande: Zum damaligen Vereinigten Königreich der Niederlande gehörte auch noch das heutige Belgien, und Willem I. war außerdem noch Großherzog von Luxemburg. Im Revolutionsjahr 1830 trennten sich die Belgier vom Norden und gründeten ein eigenes Königreich, was 1839 in einem internationalen Vertrag abgesichert wurde. Seit 1890 ist auch die Personalunion mit Luxemburg beendet. Seitdem herrscht dort ein anderer Zweig der Nassau-Dynastie.
Republik im königlichen Gewand
Es hatte etwas Künstliches, dass die Niederlande 1813 Königreich geworden waren, denn die politische Unabhängigkeit des Landes hatte fast 250 Jahre zuvor mit einer Rebellion gegen den spanischen König Philip II. angefangen – teils wegen dessen Bekämpfung des Protestantismus, teils wegen dessen Absolutismus. Obwohl die Spanier den Aufstand in den südlichen Niederlanden (dem heutigen Belgien) schon bald wieder unterdrücken konnten, schaffte es der Norden, sich als die unabhängige Republik der Vereinigten Niederlande zu etablieren. 1648 wurde sie im Westfälischen Friedensvertrag international anerkannt.
Die Oranier taten sich als militärische und politische Anführer des Aufstandes gegen die Spanier hervor, oft in Koalition mit dem fanatischen Teil der Protestanten. Die städtischen Eliten, die sog. Regenten, leisteten den Rest der harten Arbeit. Mit ihren kommerziellen Erfolgen produzierten sie den Wohlstand und machten die Niederlande zum reichsten und mächtigsten Königreich der damaligen Welt. Die oligarchische Regierung der Städte und auch z. B. der Seedeiche und des vom Meer gewonnen Neulandes, die Polder, die das Grundgebiet der Niederlande bis im späten 20. Jahrhundert erheblich erweiterten, machten die Niederlande zu einem republikanischen Erfolgsmodell. Das war schon etwas, wie in den 1990er Jahren das niederländische "Poldermodell" der Verständigung der Eliten und gesellschaftlichen Interessengruppen als Erfolgsmodell der modernen Politik apostrophiert wurde.
Oranien und die Regenten hielten sich in der Republik in Schach: Die Oranier wurden nie zu richtigen Fürsten, sondern sie erhielten nur Titel und Macht eines Statthalters, die Regenten gewannen nie das volle Vertrauen des gemeinen Volkes, das in Krisenlagen immer wieder darauf drängte, dem Statthalter den Schutz der Republik in die Hände zu geben. Das politische Leben dieser Republik kann man daher, verkürzt, als ständige Rivalität zwischen diesen beiden Parteien, Oranien versus Regenten, kennzeichnen.
Toleranz und "versäulte" Gesellschaft
Und dies war nicht das einzige Konfliktfeld im Land. So war das Spiel der Landaristokratie nie ganz aus, auch wenn die Handelselite in den verschiedenen Städten im reichen Westen des Landes (die Provinzen Holland und Seeland), durch den Überseehandel und die Handelskolonien in Ost- und Mittelasien, Afrika und Amerika auch einen sehr großen Einfluss auf die Angelegenheiten des Staates besaßen. In religiöser Hinsicht entwickelte sich eine im Vergleich zu anderen Teilen Europas verhältnismäßig tolerante Gesellschaft, in der es offiziell zwar eine Staatsreligion gab, den Kalvinismus der Niederländisch-Reformierten Kirche, aber in der Praxis auch das nicht allzu öffentliche Feiern des Katholizismus, des jüdischen Glaubens und zahlreicher christlicher Gemeinschaften geduldet wurde. Die Rivalität der Religionen wurde so ziemlich erfolgreich gemanagt ohne dass sie verschwand.
Die Niederlande waren in diesem Zeitalter, insbesondere im 17. Jahrhundert, das durch die Kulturblüte, die europäische Macht der Republik und den nationalen Wohlstand oft als das "Goldene Jahrhundert" dargestellt wird, das Zentrum der freien Presse und Wissenschaft in Europa. Laut dem britischen Historiker Jonathan Israel bildeten sie sogar die Wiege der Aufklärung und zwar in ihrer radikalen Variante, nicht in der abgeschwächten französischen Spielart. Wie dem auch sei, den Ruf eines toleranten, freien, demokratischen, bürgerlichen Landes haben die Niederlande damals erworben und nie wieder wirklich verloren – auch wenn die Wirklichkeit manchmal weniger erfreulich war oder im Moment, 2013, vielleicht ist.
Auch im 19. Jahrhundert und in der heutigen Zeit sind die Niederlande eine Republik der Rivalitäten geblieben. Die Zeit der königlichen Allmacht dauerte in den Niederlanden kaum drei Jahrzehnte. Unter Druck der Revolutionen im Ausland wurde das Land 1848 quasi über Nacht zu einer konstitutionellen Monarchie; der König ist seitdem unter Kuratel der Regierung gestellt und die Regierung ist abhängig von einer Mehrheit im Parlament. 1917 folgte dann das allgemeine Wahlrecht für erwachsene Männer, kurze Zeit später durften auch Frauen wählen.
Die Politik war in den Niederlanden seitdem ziemlich zersplittert, auch deshalb kann man von einer Republik der Rivalitäten sprechen. Nie konnte eine Partei die Politik wirklich dominieren, so wie die CDU das z. B. in der Frühzeit der Bundesrepublik getan hat. Stattdessen wuchs ein System von sog. Säulen, was eine Teilung der Politik und Gesellschaft in unterschiedliche Lebenswelten zur Folge hatte. Man fühlte sich immer niederländisch und protestantisch, niederländisch und katholisch, niederländisch und sozialdemokratisch, um die umfangreichsten dieser Milieus zu nennen. Die Eliten der Säulen arrangierten die Staatsangelegenheiten unter sich, die normalen "Mitglieder" lebten ihr Leben zum größten Teil in der Abgeschlossenheit der eigenen Säule.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Säulensystem schwächer. Insbesondere seit den späten 60er Jahren hat es seine Bedeutung größtenteils verloren. Die wichtigsten politischen Parteien gehen zwar noch auf die früheren Säulen zurück, ihr Band zu einer festen Wählerschaft ist aber weitgehend abgebrochen. Außerdem gibt es eine wachsende Konkurrenz von neuen politischen Parteien oder Wahllisten, die bei den Wahlen, so scheint es, immer mehr Erfolg verbuchen können.
Im Moment strahlen die radikallinke Sozialistische Partei (SP) und die rechtspopulistische Freiheitspartei (PVV, Geert Wilders) in den Umfragen und die Chancen der etablierten Parteien, darunter die beiden Regierungsparteien, die rechtsliberale Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) und die sozialdemokratische Partei der Arbeit (PvdA), stehen sehr schlecht.
Im kommenden Herbst könnte es politisch sehr spannend werden: Viele politische Beobachter haben schon einen Sturz der Regierung des Ministerpräsidenten Marc Rutte im Oktober oder November d. J. vorausgesagt. Der Einfluss dieser links- und insbesondere rechtspopulistischen Parteien lässt auch Zweifel an der Toleranz und an der Freizügigkeit der Niederlande aufkommen. In den 90er Jahren galten die Niederlande und ihr politisches Poldermodell der Elitenverständigung als Orientierungshilfe für moderne europäische Politik. Ist sie jetzt zum Negativexempel geworden: ein Beispiel für den verhängnisvollen Weg des Auseinanderdriftens vieler moderner westlicher Gesellschaften?
Wintersemester 2013/2014
- Vorlesung: Kleines Königreich, große Vergangenheit? Die Niederlande und ihr Verhältnis zur Weltpolitik und zu Europa im 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zu Deutschland
Weitere Informationen
- Oberseminar: Erinnerungskulturen im Vergleich: Der Umgang mit der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden und Deutschland
Weitere Informationen
- Proseminar: Dynamiken der politischen Gewalt seit 1968: »Terrorismus«, Anti-Terror-Politik und gesellschaftliche Reaktionen in westlichen Demokratien, insbesondere in den Niederlanden, der Bundesrepublik und den USA
Weitere Informationen
- Übung: Der Kalte Krieg aus kultureller und räumlicher Sicht: Grenzziehungen und Annäherungen in Europa 1945-1990
Weitere Informationen
Sommersemester 2014
- Oberseminar: Seventies: Die siebziger Jahre in Westeuropa und den USA als Rotes Jahrzehnt, Krisenzeit und Schwelle zur Gegenwart
Weitere Informationen
- Übung: Populismus in modernen Demokratien in Europa: Die Niederlande und Deutschland im Vergleich und als Beispiel einer gesamteuropäischen Entwicklung
Weitere Informationen
- Proseminar: Zwei ungleiche Nachbarn in Europa: Deutschland, die Niederlande und die europäische Integration, insbesondere seit dem Fall der Mauer
Weitere Informationen
- Exkursion: Die Niederlande entdecken: Politik und Gesellschaft, Geschichte und Kultur
Weitere Informationen
Seit 2015 ist Prof. Dr. Jacco Pekelder Honorarprofessor für die Neueste Geschichte Europas an der Universität des Saarlandes. Ab dem Sommersemester 2016 bietet Prof. Dr. Pekelder jährlich ein Blockseminar für Masterstudierende an.
Kontakt
Prof. Dr. Jacco Pekelder, Universitair Docent
Faculteit Geesteswetenschappen
Departement Geschiedenis en Kunstgeschiedenis
Universiteit Utrecht
Drift 6, NL-3512 BS Utrecht
+31 (0)30 253 7789
j.pekelder(at)uu.nl