Europa-Forschung an der Universität des Saarlandes
Europa-Welt(en) – Projektionen, Reflexionen, Transformationen
Die Forschungsaktivitäten im Cluster für Europaforschung werden unter der übergreifenden Forschungsthematik „Europa-Welt(en) – Projektionen, Reflexionen, Transformationen“ gebündelt. Die Beziehungen Europas zur Welt waren seit jeher vom Geben und Nehmen auf vielen Gebieten geprägt: Kultur, Literatur, Sprachen, Technik, Wirtschaft, Politik, Recht, Philosophie, Religion usw. Wie Europa die Welt verwandelt/e, so verwandelt/e die Welt auch Europa. In einer Zeit, in der sich der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt der Welt von Europa weg zum Pazifik verlagert, nehmen diese Wandlungsprozesse einen neuen Charakter an. Europa sucht sein Verhältnis zur Welt in neuer Weise zu denken, neue ‚Übergänge‘ zur Welt zu finden. Hieraus ergeben sich vielfältige interdisziplinäre Forschungs‑, Konflikt- und Reflexionsfelder, die im CEUS vor allem aus systematischer, historischer, empirischer, transkultureller und intermedialer Perspektive erforscht werden.
Im Fokus steht dabei die Frage, in welcher Weise ‚Konzepte‘ Europas projiziert, transformiert und reflektiert werden und wie sie empirisch erforscht werden können.
Europa projiziert seine Selbst-Entwürfe und daraus erwachsende Denkmuster, Phänomene und Praktiken in die Welt: Auf dem Gebiet der Philosophie (z. B. Aufklärung), der Religion (Missionierung), der Kultur (Sprachen, Geschichtsdeutung, Musik-, Kunst- und Literaturbegriff), der Rechts- und Verfassungsvorstellungen (regionale, nationale und kontinentale [übernationale Integration durch Recht]), der Technik (z. B. Dampfmaschine, Waffen, Räderpflug, Mühlen) und der Werte (ethische, ästhetische, rechtliche...). Europa übt politischen und wirtschaftlichen Einfluss aus (z. B. Kolonialismus, Benachteiligung der 3. Welt durch die Weltwirtschaftsordnung, Einfluss multinationaler Konzerne mit Sitz in Europa, Entwicklungspolitik, Demokratisierung). Es ist Ausgangspunkt für kulturelle, sprachliche und gesellschaftliche Transfers (z. B. moderner Sport, Wohlfahrtsstaat, Bildungssystem).
Zugleich prägt die Welt/prägen die Welten ihrerseits Europa und seine Selbstwahrnehmung durch ihre Selbstentwürfe sowie durch unterschiedlichste Formen der Rückprojektion. Dabei geht es immer mehr auch um Machtverhältnisse, um politischen und wirtschaftlichen Einfluss der Welt auf Europa (z. B. der USA und Chinas [One Belt One Road-Initiative]), zugleich um gesellschaftliche (z. B. Konsumprodukte, Migrationsprozesse) und kulturelle (z. B. Amerikanisierung, littérature-monde oder cinéma beur, World-Music) Effekte, die europäische Lebens-Welt(en) in ihrer Vielheit ausformen. Solche Projektionen und Interaktionen haben sich im Zeitverlauf fortwährend verändert, verändern sich weiter und unterliegen selektiver Aneignung in den Aufnahmeräumen. Sie verliefen und verlaufen weder als Einbahnstraßen noch als ausgewogene Wechselwirkungen zwischen den Interaktionsräumen. Vielmehr handelt/e es sich stets um asymmetrische Interdependenzen und komplexe Zirkulationen, die sich nach Dauer und Rhythmen, nach Quantität und Intensität unterschieden haben und noch unterscheiden.
Europa hat eine eigene Geschichte der Selbstreflexion, die sich in unterschiedlichen Quellen und Medien (Ikonografie, Schrift) artikuliert. Dieses Nachdenken über sich selbst und über den Anderen (auch im Sinne von Spiegelung) findet sich in Texten aller Art über Europa – vom Gesetzestext bis zum Werbetext, von geschichtswissenschaftlicher und politischer Theorie bis zum philosophischen Entwurf. Es artikuliert sich ebenfalls in Institutionen wie dem Europarat oder der Europäischen Union, in Verbänden wie der UEFA oder europäischen Umwelt-NGOs, in Events wie Weltausstellungen oder in Literatur, Memorialkultur, Theater, Musik und bildender Kunst. Auseinandersetzung mit dem Import oder der Abwehr des Projektierten aus der Perspektive Europas – wie aus der Perspektive außereuropäischer Welt(en) – sind die Folgen. Hier spielt für Europa der Begriff der (Selbst-)Kritik eine große Rolle.
Reflexion erlaubt die Bewältigung dieser positiven und negativen Konsequenzen der Projektionsprozesse. Positive Folgen sind die Idee der Weltgesellschaft, regelbasierte und institutionalisierte internationale Ordnung und die Idee der nachhaltigen Entwicklung. Negative Folgen sind hingegen die mutmaßliche Verantwortung z. B. für den Klimawandel („gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortlichkeit“) oder für die Zügelung multinationaler Konzerne; die Reparation von Kriegsschäden und die Restitution von geraubtem Kulturgut und internationaler Terrorismus (als gewaltsame Abwehrreaktion).
Wie schon die an dieser Stelle angedeuteten Wertungen zu erkennen geben, soll das Erkenntnisziel von Reflexionsanstrengungen in diesen Bereichen nicht auf eine nachlaufend-rekonstruktive Analyse und Durchdringung zuvor geschehener Aneignungs- und Abwehrprozesse eingeschränkt werden. Vielmehr ist es erforderlich, zu Konzepten, Thesen und Wertungen zu gelangen, mit denen sich auf der Grundlage bestmöglicher argumentativer Absicherung und unter Berücksichtigung aller relevanten Perspektiven Geltungsansprüche verbinden lassen: Geltungsansprüche, die das Potenzial haben, im Rahmen eines zielführenden Diskursgeschehens und institutioneller Prozesse auch weltgesellschaftlich Legitimitäten und Geltungen (etwa von internationalen Verträgen oder Menschenrechten) zu begründen.
Europa ist als sozialer, historischer, politischer, kultureller und geografischer Selbstentwurf in stetiger Veränderung begriffen. Speziell in Hinblick auf die EU wechseln sich Perioden stärkerer Integration mit Desintegrationsprozessen ab und überlagern sich zeitweise auch. Die Analyse dieser empirischen Phänomene und ihrer Ursachen sowie der Unterschiede, etwa zwischen europäischen Gesellschaften, Regionen und Nationalstaaten, erfordert einerseits den Blick auf politische Dynamiken und Prozesse, die ihrerseits mit gesellschaftlichen Veränderungen und einem Wandel individueller Einstellungen wie auch der gesellschaftlichen Diskurse verbunden sind. Andererseits stellt Transformation die grundsätzliche Wandelbarkeit, Veränderungsnotwendigkeit und Prozesshaftigkeit innerhalb der Auseinandersetzung mit Europa in allen zeitlichen Dimensionen in den Vordergrund: Mit dem Begriff Transformation lässt sich fassen, wie Europa zu dem geworden ist, was wir derzeit darunter verstehen – und herausarbeiten, dass ‚Europa‘ ein diskussionswürdiges und offenes Projekt ist.
Nachzudenken wäre über ein künftiges Europa, das es erst noch zu entwerfen gilt, bei dem aber davon auszugehen ist, dass es sich gegenüber dem Jetztzustand transformieren muss und transformieren wird – und zwar auch nach Maßgabe von Einsichten, die im Idealfall dadurch Relevanz, auch politische Relevanz, erhalten, dass sie sich auf der Grundlage von systematischer, selbstkritischer, wissenschaftlichen Rationalitätsstandards verpflichteter Reflexion über Europa hinaus auf die weltgesellschaftliche Skala verallgemeinern lassen.
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Dr. Kristina Höfer
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