30.03.2023

Leichte Bauteile für Autos und Maschinen: Künstliche Muskeln machen Antriebe klein und nachhaltig

Doktorand Carmelo Pirritano hält ein etwa zehn Zentimenter langes Bauteil in die Kamera, in dem Drähte zu sehen sind.
© Oliver DietzeMit künstlichen Muskeln, Formgedächtnisdrähten aus Nickel-Titan, bauen die Forscher kompakte technische Bauteile. Hierbei kommt auch ein patentierter Zahnstangenmechanismus zum Einsatz, der Linearbewegung in eine Rotation überführt wie bei diesem Prototyp, der auf der Hannover Messe gezeigt wird. Doktorand Carmelo Pirritano forscht an den neuartigen smarten Antrieben.

Wo Elektromotoren oder -magnete in technischen Bauteilen zu groß oder zu schwer sind, können die neuartigen Antriebe des Forschungsteams der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki von der Universität des Saarlandes helfen, Platz, Gewicht und Energie zu sparen. Ihre Formgedächtnisantriebe kommen mit einem Durchmesser von 300 bis 400 Mikrometern aus, sind leicht und energieeffizient. Künstliche Muskeln aus Nickel-Titan machen kompakte Bauteile auf kleinstem, aber auch großem Raum möglich.

Auf der Hannover Messe vom 17. bis 21. April zeigen die Forscherinnen und Forscher ihre neue Technologie in Halle 002 am Stand B34.

Die englische Version und Pressefotos finden Sie am Ende der Seite. / English version and press photographs below.

Immer mehr Technik muss heute auf kleinem Raum unterkommen. Der Platz ist knapp in Auto, Flugzeug und in sonstigen Maschinen und Geräten. Das Ganze darf auch nicht zu schwer werden. Leichtere Verkehrsmittel etwa brauchen weniger Treibstoff, Batterien von E-Autos halten länger bei leichtem Gepäck. Eine neuartige Technologie könnte künftig dabei helfen, durch kleinere und leichtere technische Bauteile nicht nur weniger Gewicht auf die Waage zu bringen, sondern zusätzlich auch weniger Energie zu verbrauchen. Das Forschungsteam der Spezialisten für intelligente Materialsysteme Stefan Seelecke und Paul Motzki entwickelt die neuen Bauteile an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik Zema. Sie wollen diese zur Katalogware machen.

Die Saarbrücker Forscherinnen und Forscher nutzen die Eigenschaften intelligenter Materialien, um den technischen Bauteilen künstliche Muskeln zu verleihen. Ihren Einsatz finden sie, wo immer sich etwas drehen soll oder Schalter auf kleinem Bauraum gebraucht werden. Sie bringen dabei Rotationsbewegungen, auch größere Drehmomente und Drehwinkel ebenso kraftvoll in Gang, wie es heutzutage nur Motoren, Hydraulik oder Druckluft können. Die über Stromimpulse betriebenen Muskelstränge des Prototyps, den das Forschungsteam in diesem Jahr auf der Hannover Messe zeigt, bestehen aus haarfeinen Drähten aus Nickel-Titan, die anspannen und entspannen können. Auf kleinstem Raum entfalten diese Formgedächtnisdrähte hohe Zugkraft. „Von allen bekannten Antriebsmechanismen haben die künstlichen Muskeln aus Nickel-Titan die höchste Energiedichte“, sagt Professor Stefan Seelecke.

Die Drähte kontrahieren wie natürliche Muskeln, je nachdem ob Strom fließt oder nicht. „Die Legierung Nickel-Titan hat ein Formgedächtnis. Auf Kristallgitterebene besitzt sie zwei Phasen, die sich ineinander umwandeln lassen. Dadurch erinnert sie sich quasi an ihre jeweils andere Form und nimmt diese wieder an, wenn etwa die Temperatur sich ändert“, erklärt Stefan Seelecke. Fließt Strom durch einen solchen Draht, erwärmt er sich und seine Kristallstruktur wandelt sich so um, dass er sich verkürzt. Wird der Strom abgeschaltet, kühlt er ab und wird lang wie zuvor. Sein Team bündelt die feinen Drähte wie echte Muskelfasern, die von Natur aus in Bündeln zusammengefasst sind. „Mehrere Drähte geben durch die größere Oberfläche mehr Wärme ab, dadurch erreichen wir schnelle Kontraktionen“, erklärt Professor Paul Motzki, der mit „Smarte Materialsysteme für innovative Produktion“ eine Brückenprofessur zwischen Universität des Saarlandes und Zema innehat.

Wie eine Beuge- und Streckmuskulatur können die Forscher die Drähte ansteuern. Dabei kommen sie ohne zusätzliche Sensoren aus, was ebenfalls platz- und energiesparend ist. Die künstlichen Muskeln selbst dienen zugleich als Sensoren des Systems. „Verformen sich die Drähte, ändert sich der elektrische Widerstand. Wir können jede Verformung des Drahts präzisen Messwerten zuordnen und können hierdurch sensorische Daten ablesen“, sagt Paul Motzki. Anhand der Messwerte können die Ingenieure schnelle und präzise Bewegungsabläufe der Drähte modellieren und programmieren.

Mit diesen steuerbaren künstlichen Muskeln bauen die Forscher technische Bauteile modular auf und passen sie verschiedensten Anforderungen an. Um dabei zum Beispiel etwas in Drehung zu versetzen, lassen die Ingenieure die Drähte kontrahieren und so etwa an einem Zahnrad ziehen. Wie bei echten Muskeln nutzen sie dabei muskuläre Gegenspieler. „Wir setzen die Formgedächtnisdrähte als Agonist und Antagonist, als Beuger und Strecker ein, sodass eine Rotation in beide Richtungen möglich ist. Ein Hebel übersetzt dabei die lineare Kontraktion in den entsprechenden Drehwinkel. Je kleiner dieser Hebel ist, desto höher ist der Winkel der Rotation“, erläutert Paul Motzki. „Hierbei kommt auch ein patentierter Zahnstangenmechanismus zum Einsatz, der die Linearbewegung in eine Rotation überführt wie im Prototyp, den wir auf der Hannover Messe zeigen“, ergänzt er.

Die Technologie ist skalierbar, mit ihr sind also auch größere technische Bauteile möglich. Anders als Elektromotoren, pneumatische oder hydraulische Maschinen verursacht das Verfahren keinen Lärm und kommt ohne zusätzliches Equipment wie Schläuche, Ventile, Pumpen oder Kompressoren und auch ohne seltene Erden aus. Auf der Hannover Messe suchen die Forscherinnen und Forscher Partner, um ihr Verfahren für verschiedene Anwendungen weiterzuentwickeln.

Hintergrund
Das Forschungsteam nutzt diese Technologie für die verschiedensten Anwendungen vom neuartigen Kühlsystem über Robotergreifer bis hin zu Ventilen und Pumpen.
An der Technologie forschen auch viele Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen ihrer Doktorarbeiten. Sie ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und wurde im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte gefördert, etwa vom Saarland in dem mit EFRE-Mitteln geförderten Projekt "iSMAT" am Zema.

Die Ergebnisse der anwendungsorientierten Forschung wollen die Forscher in die Industriepraxis bringen, hierzu haben sie aus dem Lehrstuhl heraus die Firma mateligent GmbH gegründet.

Fragen beantwortet:
Prof. Dr. Stefan Seelecke, Lehrstuhl für intelligente Materialsysteme:
+49 (681) 302-71341; stefan.seelecke@imsl.uni-saarland.de
Prof. Dr. Paul Motzki, Professur Smarte Materialsysteme für innovative Produktion
+49 (681) 85787-545; E-Mail: paul.motzki@uni-saarland.de
Sophie Nalbach, M.Sc., Bereichsleiterin Smarte Materialsysteme, Zema
+49 (681) 85787 – 910; sophie.nalbach@imsl.uni-saarland.de

Weitere Informationen:
https://imsl.de/projekte - Videos zu den Projekten des Lehrstuhls
https://imsl.de - Lehrstuhl für intelligente Materialsysteme
https://mateligent.de - Spin off mateligent GmbH
https://zema.de/ - Am Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA) in Saarbrücken arbeiten Universität des Saarlandes, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes htwsaar und Industriepartner zusammen.

English version:

Hannover Messe
Lightweight components for cars and machines: Artificial muscles are making drive systems small and sustainable

Wherever electric motors or electromagnets are too large or too heavy to be incorporated into a technical component, the novel drive mechanisms being developed by a research team led by Professors Stefan Seelecke and Paul Motzki at Saarland University can help to save space, weight and energy. Their shape-memory drives have a diameter of 300–400 microns (1 micron = 1 thousandth of a millimetre) and are ultralight and very energy efficient. Using artificial muscles made from the alloy nickel-titanium, the team is able to make miniature drive components for use in highly confined, but also much larger spaces. The research team will be showcasing their new technology at this year’s Hannover Messe from 17 to 21 April (Hall 002, Stand B34).

In today's world, ever more technology has to be fitted into ever smaller spaces. Space is at a premium inside cars, planes and other machines and devices. And overall weight is another important consideration. The lighter the vehicle, the less fuel it needs, or in the case of electric vehicles, the longer the battery will last. In future, a novel type of technology currently under development could help to make components smaller and lighter, and consume less energy. A research team led by smart material specialists Stefan Seelecke and Paul Motzki, based at Saarland University and the Center for Mechatronics and Automation Technology (ZeMA) in Saarbrücken, is developing the novel components with the aim of having them manufactured commercially.

The Saarbrücken-based scientists are exploiting the properties of intelligent materials in order to provide drive components with artificial muscles. These components find use wherever something has to rotate or where switches have to be installed in tight spaces. In fact, they can deliver the sort of large-torque, large-angle rotational motion that currently requires the use of much larger motors, or hydraulic or pneumatic systems. The prototype that the research team is showcasing at this year's Hannover Messe contains strands of artificial 'muscle' made from ultrathin nickel-titanium wires that can contract or relax depending on the applied current. The wires are able to exert a substantial tensile force over a very short distance. 'These artificial muscles made from nickel-titanium alloy have the highest energy density of all known drive mechanisms,' explained Professor Stefan Seelecke.

The ultrafine wires contract or relax like real muscle fibres, depending on whether an electric current is flowing or not. 'Nickel-titanium alloy is what is known as a shape-memory material. At the level of the crystal lattice, the material can exist in two phases that can transform into each other. When the material is in one phase, it 'remembers' the lattice structure in the other phase and transforms into that structure when, say, the temperature changes,' said Stefan Seelecke. If an electric current flows through a wire made from nickel-titanium, the material heats up, causing it to adopt a different crystal structure with the result that the wire becomes shorter. When the current is switched off, the wire cools down and returns to its original length. The research team creates bundles of these fine shape-memory wires, just as muscle fibres in nature are grouped into fibre bundles. 'The more wires we have, the greater the surface area and the faster we can dissipate heat, which means faster relaxation after contraction,' explained Paul Motzki who holds a cross-institutional professorship in smart material systems for innovative production at Saarland University and at ZeMA.

The engineers can control the movement of these artificial muscles so that they contract and relax like real muscle fibres. And because they don't need additional sensors, these drive systems save space and energy. They don't need sensors because the artificial muscles themselves also serve as sensors. 'When the wires change shape, so too does their electrical resistance. We can assign precise resistance values to every deformation, which allows to extract sensory data,' said Paul Motzki. The research engineers use these measured values to model and program precise motion sequences.

They can then build components in a modular fashion using these precisely controllable artificial muscles, adapting their designs to the needs of each specific application. For example, if they want to get something to rotate, the engineers make the wires contract and pull on a gear wheel. And as with real muscles, the engineers make use of two muscles working in opposition. 'We deploy our shape-memory wires in agonist and antagonist pairings that work together like flexor and extensor muscles, so that rotation is possible in both directions. When the wire contracts, a lever converts the linear contraction into the corresponding angle of rotation. The shorter the lever, the greater the angle of rotation,' explained Paul Motzki. 'We have developed a patented rack and pinion mechanism that converts linear into rotary motion, and we'll be exhibiting the prototype at this year's Hannover Messe,' he added.

The technology is also scalable, so that larger technical components can also be manufactured. Unlike combustion engines or electric motors and unlike pneumatic or hydraulic systems, the technology being developed in Saarbrücken produces neither noise nor exhaust fumes, and it doesn't need additional equipment such as hoses, valves, pumps or compressors, or rare earths. While at Hannover Messe, the research team will also be looking for partners with whom they can develop their technology for new applications.

Background
The research team has used this technology for a wide range of applications, ranging from novel cooling systems and robotic grippers to valves and pumps.
The technology continues to be developed by PhD students who are conducting research as part of their doctoral dissertation projects. The results have been published as papers in a variety of scientific journals. The research work has also received support from numerous sources. For example, the Saarland state government has provided funding through the ERDF project 'iSMAT' at ZeMA.
The company ‘mateligent GmbH’ was spun off from Professor Seelecke's department to facilitate the transfer of the results of their applications-driven research to commercial and industrial applications.

Questions can be addressed to:
Prof. Dr. Stefan Seelecke, Intelligent Material Systems Lab, Saarland University:
+49 681 302-71341; stefan.seelecke@imsl.uni-saarland.de
Prof. Dr. Paul Motzki, Smart Material Systems for Innovative Production,
+49 681 85787-545; Email: paul.motzki@uni-saarland.de
Sophie Nalbach, M.Sc., Group leader, Smart Materials Systems (ZeMA)
+49 681 85787-910; sophie.nalbach@imsl.uni-saarland.de

Further information:
https://imsl.de/projekte - Videos zu den Projekten des Lehrstuhls
https://imsl.de – Intelligent Material Systems Lab
https://mateligent.de – mateligent GmbH
https://zema.de/ – Center for Mechatronics and Automation Technology (ZeMA) in Saarbrücken (a research hub for collaborative projects involving researchers from Saarland University, Saarland University of Applied Sciences (htw saar) and industrial partners.

Press photographs:/ Pressefotos zum Download:
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