08.04.2024

Ringvorlesung: Fake, Lüge, Desinformation. Über die Literatur zwischen Fiktion und Täuschung

Fakes, Lügen und Desinformationen sind Instrumente der hybriden Kriegsführung von totalitären Staaten gegen die freie Welt. Im Inland werden sie von Radikalen und Populisten genutzt, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Gemeinwesens zu untergraben. Eine literaturwissenschaftliche Ringvorlesung wird Aspekte dieses Phänomens im literarischen Feld beleuchten und Brücken zu Debatten und Fragen der Gegenwart schlagen. Sie findet ab 22. April um 19 Uhr im Saarbrücker Rathaus statt.

Der „Mangel der Übereinstimmung unserer Worte und Geberden mit unsern Gedanken“, wie der Dresdner Lexikograph Johann Christoph Adelung im 18. Jahrhundert in seinem berühmt gewordenen Wörterbuch formuliert, ist seit der Antike ein beliebtes Motiv in der Literatur: Täuschung und Betrug werden als handlungsauslösende Momente eingesetzt, Lügengeschichten, Über- oder Untertreibungen tatsächlicher Begebenheiten sowie der offensichtliche Schwindel zur Unterhaltung und Belehrung des Lesepublikums erzählt. Auch Halb- und Unwahrheiten sind wesentliche Mittel der persuasiven Strategie von Texten. Die Beschäftigung mit der Literatur und das Verständnis ihrer Mechanismen soll daher auch einen Beitrag zur Verteidigung demokratischer Grundwerte leisten.

Veranstalter dieser 13. Saarbrücker literaturwissenschaftlichen Ringvorlesung sind Privatdozent Hermann Gätje und Professor Sikander Singh von der Universität des Saarlandes in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Film und Wissenschaft im Kulturamt der Landeshauptstadt Saarbrücken. Die Vorlesungen finden im Sommersemester jeweils montags im Festsaal des Saarbrücker Rathauses statt und dauern in der Regel eine Stunde. Im Anschluss besteht die Möglichkeit, Fragen zu stellen und mit den Vortragenden ins Gespräch zu kommen.

Das vollständige Programm mit Kurzbeschreibungen folgt hier:

22. April 2024

Die Kunst des Schwindelns und der Schwindel der Kunst: Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“
Professor Dr. Sascha Kiefer (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)

Hochstapler und Künstler haben einiges gemeinsam: Beide erzeugen Illusionen. Beide wollen vom Verkauf dieser Illusionen leben. Beide brauchen ein Publikum, das sich überzeugen und berühren, bezaubern und hinters Licht führen lässt. Thomas Mann war diese Affinität von Hochstapelei und Kunst, von Schwindel und Literatur hochgradig bewusst. Künstlerfiguren in seinem Werk sind Außenseiter und Getriebene, »Bürger auf Irrwegen« wie Tonio Kröger oder sogar mit dem Teufel im Bund wie Adrian Leverkühn im Doktor Faustus. Vollends lässt der Hochstapler Felix Krull die Grenzen zwischen Kriminalität und Künstlertum verschwimmen. Und nicht nur das: Auch scheinbare Gewissheiten wie Moral, Bildung, Individualität, Identität und Geschlecht stellt Thomas Manns letzter Roman zwar spielerisch-ironisch, aber umso gründlicher in Frage. Der Vortrag analysiert das ambivalente Künstler-Bild Thomas Manns und versucht darüber hinaus zu klären, was am Hochstapler Felix Krull und seinen Bekenntnissen bis heute fasziniert.

29. April 2024

Fiktion und Fake News um Nero. Das Bild des Kaisers in den historischen Quellen
Professor Dr. Christoph Kugelmeier (Klassische Philologie)

Unser Bild von den römischen Kaisern des 1. Jh. n. Chr. dürfen wir nur mit größter Vorsicht entwerfen. Die populäre Wahrnehmung dieser Epoche sieht einen Caligula oder einen Nero als wahre Bestien in Menschengestalt; dies gilt umso mehr, wenn dieser Blick auch noch weiter getrübt ist durch neuzeitliche Zerrbilder des Films und der historischen Romanliteratur. Aber auch die Macht, welche die von den despotischen principes jener Epoche entworfenen Bilder ausüben, die Tacitus oder Sueton der Nachwelt hinterlassen haben, sollte trotz jahrhundertelanger kritischer Untersuchung und teilweiser Revision nach wie vor nicht unterschätzt werden. Außer durch eine Tendenz zum Anekdotischen sind diese historischen und biographischen Darstellungen nachweisbar gefärbt dadurch, dass sie historische Fakten durch Rückgriff auf fiktionale Literatur deuten.

13. Mai 2024

Handschriften und Texte in der slavischen Welt: echt, gefälscht, imaginiert?
Professor Dr. Dr. h. c. Roland Marti (Slavische Philologie)

Auch in der slavischen Welt ist der kreative Umgang mit Fakten und Geschichte(n) vielfach belegt. Im Vortrag werden einige Beispiele aus dem reichen Fundus vorgestellt, die meist geschichtsstiftende Funktion hatten: die ostslavische Variante der „Konstantinischen Schenkung“ (16. Jh.), die Fälschungen des Bibliophilen A. I. Sukaladzev (18./19. Jh.), die V(e)lesova kniga (20. Jh.) sowie die tschechischen Grünberger und Königinhofer Handschriften (19. Jh.), aber auch das hinsichtlich seiner Echtheit umstrittene ostslavische Igorlied.

27. Mai 2024

Falsche Propheten – Literatur und Identität
Professor Dr. Martin Meiser (Evangelische Theologie)

Unruhige und bedrohliche Zeiten lassen schon in biblischen Texten die Frage nach der richtigen ‎Zeitdeutung aufkommen. Anders als heute sind Fake News damals weniger als Drohung, sondern ‎vielmehr als Beschönigung der Lage intendiert. Der Vortrag wird der Frage nachgehen, warum man ‎in biblischen Texten nachträglich das Thema falscher Prophetie so prononciert betont.‎

3. Juni 2024

Gefälschte Autorschaft: Betrügerische Schriftstellerfiguren in Literatur und Film
Dr. Claudia Schmitt (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)

Über die Bedeutung des Autor-Konzepts wird in der Literaturwissenschaft schon lange gestritten, aber auch Schriftsteller und Filmschaffende treibt die Frage nach der Rolle des Verfassers eines Sprachkunstwerks um. Ihren Niederschlag findet dies in einer besonderen Spielart der Künstlerthematik, dem Fälscherroman oder Fälscherfilm. In zeitgenössischen Romanen und Filmen treten Autoren-Figuren auf, die eifrig fälschen oder plagiieren. Was sind die Auswirkungen des Betrugs auf die Fälschenden, auf ihr privates Umfeld, aber auch auf den Literaturbetrieb, der vor allem ein ökonomischer Markt zu sein scheint?

10. Juni 2024

Listige Helden, intrigante Verräter und lügende Inschriften – Zur narrativen Inszenierung von Fake News im Mittelalter
Dr. Stephanie Mühlenfeld (Ältere Deutsche Literaturwissenschaft)

Obgleich der Terminus "Fake News" erst in der modernen Zeit geprägt wurde, existiert bereits im Mittelalter eine Vielzahl von Erzähltexten, in denen Falschinformationen, Manipulationen und Täuschungen von zentraler Bedeutung sind. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür findet sich in der Spielmannsdichtung "Herzog Ernst", entstanden um das Jahr 1180. Hier wird deutlich, dass aufgrund einer falschen Behauptung des hinterlistigen Pfalzgrafen Heinrich ein Krieg entfacht wird, der die Lande erschüttert. Die Schatten der Manipulation ziehen sich ebenso durch Werke wie das „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad, den „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg, den Lancelot-Gral-Zyklus und die Prosa-Epen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken. Die im Rahmen des Vortrags zu untersuchenden Leitfragen lauten: Welche Intention steht jeweils hinter diesen Falschmeldungen? Wie wird geschickter Einsatz von Sprache zum Werkzeug der Täuschung? Welche Rolle spielt dabei das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit? Findet Manipulation ausschließlich auf der Ebene der Figuren statt oder agiert auch die Erzählinstanz manipulativ? Und kommt es zu einer Aufdeckung der „Fake News“?

Die Untersuchung soll jedoch nicht allein auf die Würdigung der einzelnen Textabschnitte als meisterhaft gestaltete Unterhaltungselemente der Erzählungen beschränkt sein. Ebenso ist sie darauf ausgerichtet, durch die literarischen Zeugnisse Erkenntnisse über zeitgenössische gesellschaftliche Normen und das kollektive Bewusstsein zu gewinnen.

17. Juni 2024

Ist die Aufklärung ein gescheitertes Projekt? Einige programmatische Überlegungen zur Geistes- und Literaturwissenschaft im „postfaktischen“ Zeitalter
Privatdozent Dr. Thomas Petraschka (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft)

In verschiedensten geistes- und insbesondere auch literaturwissenschaftlichen Kontexten ist aktuell viel zu lesen über eine nachhaltige "Krise der Rationalität" oder das "Scheitern des Projekts der Aufklärung". Gelegentlich wird in diesen Zusammenhängen eine scheinbar allzu rigide und damit "über das Ziel hinausschießende" Rationalität sogar für die gesellschaftlichen Verwerfungen rund um Fake News und alternative Fakten verantwortlich gemacht. In seinem Vortrag wird Thomas Petraschka diese rationalitätskritischen Hinweise auf ihre Plausibilität befragen. Er wird dann argumentieren, dass die Literaturwissenschaft gerade in Zeiten allgemein grassierender Wahrheitsskepsis gut daran täte, sich von postmodernen Verirrungen zu verabschieden und zu einem Selbstverständnis zu finden, das auf den Grundprinzipien universeller Rationalität basiert und den gesellschaftlichen Nutzen der Literaturwissenschaft stärker ins Zentrum rückt.

24. Juni 2024

Der falsche Mond: Phantastische Reisen, Fälschungen, Verschwörungen
Juniorprofessor Dr. Jonas Nesselhauf (Europäische Medienkomparatistik)

Schon immer stellte der Mond ein Sehnsuchtsobjekt am nächtlichen Sternenhimmel dar, der aus der Ferne beobachtet und gedeutet wurde: So imaginieren Texte seit der europäischen Antike mögliche Reisen (auf Pferden und Schwänen, mit Ballons und Kapseln) oder beschreiben die Flora und Fauna des Erdtrabanten in fiktiven journalistischen Zeitungsreportagen. Und auch im Zeitalter der Raketentechnik und den tatsächlichen wissenschaftlichen Expeditionen scheint der Mond weiterhin seine Anziehungskraft für Spekulationen und Fälschungen nicht verloren zu haben.

1. Juli 2024

„Gab es falsche Gedanken oder nur unverständliche?“ – Das Dilemma von Wirklichkeit und Schreiben im Journalistenroman „Die Fälschung“ (1979) von Nicolas Born
Privatdozent Dr. Hermann Gätje (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Wirklichkeit, ihrer Wahrnehmung und ihrer Darstellung in der Literatur bildet einen roten Faden im Werk des Schriftstellers Nicolas Born (1937 bis 1979), sowohl in seiner Prosa als auch in seiner Lyrik. Sein letzter, kurz vor seinem Tod erschienener und 1981 von Volker Schlöndorff erfolgreich verfilmter Roman „Die Fälschung“ variiert dieses Thema mit der Geschichte eines Kriegsreporters in dem vom libanesischen Bürgerkrieg gezeichneten Beirut. Der Vortrag will den Text historisch in die Grundfragen des Diskurses um die Wirklichkeitsfrage in der Literatur einordnen und gleichermaßen seine heutige Aktualität hervorheben, etwa im Hinblick auf die Frage der Kriegsberichterstattung.  

8. Juli 2024

Post-Truth, Alternative Facts und Fake News – Amerikanische Literatur in der Trump-Ära
Professorin Dr. Astrid Fellner (Nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft)

Dieser Vortrag beschäftigt sich mit amerikanischer Literatur in der Trump-Ära und zeigt auf, wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf die „Unwirklichkeit“ und den post-faktischen Umgang mit der Wahrheit, die die Politik Donald Trumps charakterisieren, und die neue amerikanische Realität nach 2016 reagiert haben. „Fake News“, „alternative Fakten“ und das Verwischen von Fakt und Fiktion haben sowohl zu einer Krise der Repräsentation von „Amerika“ geführt also auch den Zweck von Literatur verändert. So können post-faktische politische Diskurse und die daraus entstehenden „alternativen Fakten“ als Narrative verstanden werden, die das Verständnis von amerikanischer Literatur verändern.

15. Juli 2024

Von erfundenen Gefangenen und imaginären Torturen. Fake News im Kontext des Sturms auf die Bastille am 14. Juli 1789
Professor Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink (Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation)

Der Bastillesturm am 14. Juli 1789 ist ein epochales Ereignis der Französischen Revolution und wird am französischen Nationalfeiertag als Sieg der vom Volk wieder erlangten Freiheit über Despotie und Tyrannei gefeiert. Der Vortrag wird der Frage nachgehen, inwieweit diesem Ereignis auch Mythenbildungen und gezielt lancierte Falschnachrichten zugrunde lagen – über imaginäre Gefangene wie dem Comte de Lorges bis zu Gerüchten über geheime Folterkammern und unmenschliche Haftbedingungen.

22. Juli 2024

Dynamiken der Täuschung in Adaptionen von E. T. A. Hoffmanns Erzählungen
Dr. Laura Vordermayer (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)

E.T.A. Hoffmanns Erzählungen sind für ihr Spiel mit Täuschungen bekannt: Figuren können ihren Augen kaum trauen und nichts ist, wie es scheint. Neben jenen, die sich in ihrer Imagination verlieren und in wahnhafte Zustände hineinsteigern, gibt es aber auch die Betrüger, die einen geheimem Plan verfolgen und dabei vorsätzlich täuschen: In Erzählungen wie „Der Sandmann“ (Nachtstücke, 1816) greifen Selbst- und Fremdtäuschung ineinander und bedingen sich gegenseitig. Die Werke des Autors haben bis heute eine breite Rezeption erfahren und wurden vielfach adaptiert. Der Vortrag nimmt die für Hoffmann charakteristischen Dynamiken der Täuschung in den Blick und untersucht, wie ausgewählte Adaptionen mit ihnen umgehen.