Im Mikrokosmos des menschlichen Körpers hält ein ausgefeiltes Zusammenspiel unzähliger winziger Prozesse alle Körperfunktionen in Gang. Nicht minder komplizierte Kettenreaktionen können aber auch dazu führen, dass hier etwas schiefläuft. So etwa bei der Entstehung von Tumoren. Zu verstehen, wie die fatalen Prozesse ablaufen, und was hier mit wem wie zusammenhängt, ist eine Detektivarbeit von großer Bedeutung. Denn nur so kann man versuchen, einzugreifen, den Auslöser zu hemmen, zu unterdrücken oder gar den Dominoeffekt zu stoppen, um so zum Beispiel zu verhindern, dass ein Tumor weiterwächst.
Hieran forscht an der Universität des Saarlandes auch die Arbeitsgruppe von Professorin Alexandra K. Kiemer. Die Forscherinnen und Forscher sind den winzigen Dominosteinen auf der Spur, die dazu beitragen, dass Tumoren entstehen, wachsen und Metastasen bilden, und konnten erneut die Rolle eines hauptverdächtigen Protagonisten näher ans Licht bringen: Es handelt sich dabei um das Protein IMP2. Besagtes Protein ist schon länger bekannt. Es kommt in großem Stil normalerweise nur vor der Geburt in Körperzellen von Embryonen vor, die auf ein starkes Wachstum angewiesen sind. „Nach der Geburt nimmt das IMP2 in Körperzellen ab und ist, wenn, dann nur in sehr geringen Mengen vorhanden“, erklärt Alexandra K. Kiemer. Aber in Zusammenhang mit Tumoren, das ist in der Forschung ebenfalls bekannt, gibt es das Protein IMP2 mitunter wieder reichlich zu finden. „Zum Beispiel bilden Lebertumorzellen oft jede Menge IMP2, auch etwa Darmkrebszellen. Die Patienten, bei denen die Tumorzellen besonders viel IMP2 bilden, haben eine schlechtere Prognose, eine schlechtere Überlebensrate“, sagt die Pharmazeutin.
Was IMP2 dabei genau anrichtet, lag bislang im Dunkeln. Forscherinnen aus Alexandra K. Kiemers Arbeitsgruppe, darunter Doktorandin Annika Schomisch, sind nun dem verdächtigen Tun auf die Schliche gekommen. Die Pharmazeutinnen untersuchten, was in der Mikroregion um die Tumorzellen, die das Protein bilden, genau vor sich geht. Sie konnten aufdecken, wie die Tumorzellen mithilfe von IMP2 „gute“ Immunzellen in ihrer Nähe auf ihre Seite ziehen, sie sozusagen rekrutieren und zu Überläufern umpolen.
Die Immunzellen, auch Makrophagen oder Fresszellen genannt, sind normalerweise das „Mobile Einsatzkommando“ des Körpers gegen Feinde wie Bakterien, Viren oder auch entartete Zellen wie Tumorzellen: Sie jagen solche Angreifer und machen ihnen den Garaus. In dieser „guten“ Spezialeinheit aber gibt es „böse“ Überläufer. Manche von ihnen lassen sich von Krebszellen anheuern: Sendet die Krebszelle bestimmte Signale, hören die Überläufer nicht nur damit auf, die Tumorzellen zu bekämpfen. Sie tragen anschließend sogar aktiv zu ihrem Wachstum bei, indem sie alles dafür tun, den Tumor gut mit Nährstoffen zu versorgen. Zusätzlich sabotieren sie auch noch die Immunabwehr, indem sie diese drosseln.
Und eben hier spielt das Protein IMP2 eine tragende Rolle. Kiemers Team konnte nachweisen, dass IMP2 entscheidenden Einfluss darauf hat, dass die Krebszelle die Botenstoffe mit der fatalen Botschaft aussendet. Die Tumorzellen geben hierzu winzigste blasenförmige „Päckchen“, im Fachjargon Vesikel genannt, in ihre Mikroumgebung ab. „Die Makrophagen nehmen diese Vesikel auf, was eine molekulare Veränderung zur Folge hat“, erklärt Doktorandin Annika Schomisch. Das Protein IMP2 bestimmt dabei die Ladung der Vesikel, also welche Information darin enthalten ist. Die „guten“ Immunzellen, die die Vesikel aufnehmen, werden dadurch zu „bösen“. Sie laufen zum Feind, dem Tumor, über und sorgen dafür, dass dieser bestens gedeiht. So produzieren sie etwa Stoffe, die bewirken, dass sich sowohl neue Blutgefäße bilden als auch, dass diese dann ihren Weg zum Tumor bahnen, damit er gut mit Nährstoffen versorgt wird. „Die Enzyme, die von den Makrophagen gebildet werden, verdauen Kollagen und schmelzen hierdurch regelrecht den Weg frei für die neuen Blutgefäße. IMP2 sorgt außerdem wohl auch dafür, dass der Tumor leichter Metastasen bilden kann. Hierzu müssen sich Tumorzellen aus dem Tumor heraus und in andere Organe bewegen. Durch die Umpolarisation setzen Makrophagen Stoffe frei, die dafür sorgen, dass die Beweglichkeit der Tumorzellen verbessert wird“, erklärt Alexandra K. Kiemer.
Um die Mikroumgebung der Tumorzellen zu untersuchen, isolierten die Forscherinnen und Forscher die Vesikel, also die „Päckchen“, die die Tumorzellen abgeben. Aus Restmaterial von Blutspenden entnahmen sie Makrophagen und behandelten diese mit den Vesikeln. Um zu überprüfen, ob die in der Zellkulturschale gewonnenen Erkenntnisse auch für einen Gesamtorganismus relevant sind, führten sie keine Experimente mit Mäusen durch, sondern untersuchten dies an Zebrafisch-Larven. Hierbei arbeitete Kiemers Arbeitsgruppe auf dem Saarbrücker Campus mit dem Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) zusammen: „Dieses Modellsystem kommt seit mehreren Jahren am HIPS zum Einsatz. Es liefert für viele Fragestellungen Ergebnisse, die Experimente mit Versuchstieren ersetzen“, erklärt Alexandra K. Kiemer.
Die Pharmazeutinnen forschen daran, die komplexen Beziehungen von Tumorzellen mit ihrer Mikroumgebung weiter aufzuklären, um so Schwachstellen des Tumors auszumachen. Ein besseres Verständnis des Zellstoffwechsels durch ihre Grundlagenforschung kann dazu beitragen, dass in Zukunft neue Therapiestrategien entwickelt werden können. Die neuen Erkenntnisse zum Protein IMP2 sind Ausgangspunkt weiterer Forschung mit dem Ziel, das Tumorwachstum zu verlangsamen oder aufzuhalten, indem die Bildung des Proteins IMP2 gehemmt wird.
Die Forscherinnen und Forscher veröffentlichen ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift Cell Communication and Signaling.
doi: 10.1186/s12964-024-01701-y
Originalpublikation
Cell Communication and Signaling
Vida Mashayekhi, Annika Schomisch, Sari Rasheed, Ernesto Aparicio-Puerta, Timo Risch, Daniela Yildiz, Marcus Koch, Simon Both, Nicole Ludwig, Thierry M. Legroux, Andreas Keller, Rolf Müller, Gregor Fuhrmann, Jessica Hoppstädter & Alexandra K. Kiemer
„The RNA binding protein IGF2BP2/IMP2 alters the cargo of cancer cell-derived extracellular vesicles supporting tumor-associated macrophages“,
Cell Commun Signal 22, 344 (2024).
https://doi.org/10.1186/s12964-024-01701-y
Fragen beantworten:
Prof. Dr. Alexandra K. Kiemer, Pharmazeutische Biologie
Tel.: 0681 302-57311 oder -57322, E-Mail: pharm.bio.kiemer(at)mx.uni-saarland.de
Annika Schomisch
Tel.: 0681 302-57313, E-Mail: annika.schomisch(at)uni-saarland.de
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