27.03.2023

Hannover Messe: Bionische Roboterarme beweglich und sanft wie Elefantenrüssel

Doktorand Yannik Goergen und Rawan Barakat halten den etwa 30 Zentimeter langen Prototyp des bionischen Rüssels in die Kamera.
© Oliver DietzeDoktorand Yannik Goergen (l.) hat den bionischen Roboterrüssel im Rahmen seiner Promotion entwickelt. Rawan Barakat arbeitet im Rahmen ihres Masterstudiums an bionisch inspirierten soften Robotern.

Künstliche Muskeln und Nerven aus der Formgedächtnislegierung Nickel-Titan machen Roboterrüssel wendig und beweglich wie ihr tierisches Vorbild. Sie sind aber wesentlich leichter, unermüdlicher und präzise steuerbar. Die bionischen Roboterarme, die das Forschungsteam um Professor Stefan Seelecke von der Universität des Saarlandes zusammen mit der Festo-Unternehmensgruppe entwickelt, verbrauchen nur wenig Strom und können gefahrlos mit Menschen zusammenarbeiten.

Die Technologie zeigt das Forschungsteam auf der Hannover Messe vom 17. bis 21. April (Halle 002, Stand B34).

Die englische Version und Pressefotos finden Sie am Ende der Seite. / English version and press photographs below.

Industrieroboter sind heute ebenso kraftvoll, flink und präzise wie schwer und lebensgefährlich. Menschen, die mit ihnen arbeiten, müssen sich in Acht nehmen, sonst hat ein Rempler schnell schmerzhafte Folgen. Damit sie mit dem Menschen Seite an Seite und Hand in Hand arbeiten können, müssen Roboter softer sein. Einen Roboterarm, der gänzlich ohne schwere Metallkonstruktion auskommt, entwickelt das Forschungsteam um den Spezialisten für intelligente Materialsysteme Professor Stefan Seelecke von der Universität des Saarlandes (UdS).

Die Saarbrücker Forscherinnen und Forscher folgen dabei dem Vorbild der Natur: dem Elefantenrüssel. „Dieses Erfolgsmodell hatte Jahrmillionen Zeit, auszureifen, und sich in der Praxis zu bewähren“, erklärt Stefan Seelecke. Der schlanke Roboterrüssel, den sie entwickeln, kann schwingend pendeln und schlenkern, sich in alle Richtungen biegen. Anders als die heutigen schweren, metallenen Roboterarme ist er nicht an sperrige Gelenke gebunden, die Bewegungen nur in bestimmte Richtungen zulassen. Wie sein tierisches Vorbild kommt der Roboterrüssel ohne „Knochen“, also ohne starres Metallgerüst aus. Er ist wendig allein durch das geschickte Zusammenspiel seiner künstlichen Muskeln.

„Unsere intelligenten Materialsysteme machen biegsame und weiche Roboterwerkzeuge möglich, die erheblich leichter und flexibler sind als heutige technische Bauteile. Sie brauchen keine Motoren, Hydraulik oder Druckluft, sondern funktionieren mit vergleichsweise wenig elektrischem Strom. Das macht diese Robotertechnologie im Betrieb nachhaltig, kostengünstig und auch leise“, erläutert Stefan Seelecke. Sein Forschungsteam arbeitet an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik Zema an verschiedenen Arten von künstlichen Muskeln für smarte Roboterrüssel und -tentakel. Sowohl intelligente Kunststoffe wie auch Formgedächtnislegierungen setzen die Ingenieure hierzu ein. Auf der Hannover Messe zeigt das Team seinen neuen Prototyp mit Formgedächtnis: Der etwa 30 Zentimeter lange Rüssel demonstriert sein Können mit Muskeln und Nerven aus Nickel-Titan-Drahtbündeln. „Die Technologie ist skalierbar, sie funktioniert auch für große Industrieroboter“, sagt Seelecke.

Künstliche Muskeln aus Nickel-Titan-Drähten können wie Muskeln von Lebewesen kontrahieren: Auf Befehl verkürzen sie sich, ziehen sich also zusammen, und dehnen sich wieder aus, entspannen also. Diese außergewöhnliche Fähigkeit von Nickel-Titan beruht auf dem Phänomen des Formgedächtnisses dieser Legierung: Sie erinnert sich an ihre ursprüngliche Form. Wird ein solcher Draht erwärmt, etwa indem Strom hindurchfließt, verkürzt er sich. Wird der Strom abgeschaltet, kühlt er ab und wird wieder lang. Der Grund liegt im Kristallgefüge der Legierung: „Durch Erwärmen kommt es hier zu Festkörperphasenumwandlungen“, erklärt Professor Paul Motzki, der mit Stefan Seelecke forscht und mit „Smarte Materialsysteme für innovative Produktion“ eine Brückenprofessur zwischen Universität des Saarlandes und Zema innehat. Anders als etwa bei Wasser, das bei Erwärmen gasförmig wird, bleibt Nickel-Titan zwar fest, aber der feste Zustand, seine Kristallstruktur, wandelt sich um.

Die Forscherinnen und Forscher setzen den Rüssel aus vielen der künstlichen Muskelstränge zusammen. Wie echte Muskelfasern, die in Bündeln zusammengefasst sind, bündeln sie dafür auch die haarfeinen Drähte. Drahtbündel geben durch die größere Oberfläche mehr Wärme ab, was die Kontraktionen schneller macht. Und stark sind sie auch: „Die Drähte haben die höchste Energiedichte aller bekannten Antriebsmechanismen und entwickeln hohe Zugkraft. Das macht es uns auf kleinstem Raum möglich, starke Antriebstechniken unterzubringen, was sonst unmöglich wäre“, erläutert Paul Motzki. Indem sie mehrere dieser Drahtbündel in bestimmten Abständen durch eine Reihe runder, dünner Kunststoffscheiben fädeln, halten die Drahtbündel Abstände ein und es entsteht ein Rüsselsegment. Die Forscher setzen mehrere dieser Segmente zusammen, deren Scheiben zum Ende des Rüssels hin kleiner werden.

Durch elektrische Impulse können die Forscher im Rüssel die Muskeln spielen lassen. Verkürzen sie die künstlichen Muskelstränge auf einer Seite in einem Muskelsegment, biegt sich der Rüssel an dieser Stelle im gewünschten Winkel nach außen. Das Zusammenspiel der Drahtbündel bringt dabei wie eine Beuge- und Streck-Muskulatur fließende Bewegungsabläufe hervor. Ohne zusätzliche Sensoren können die Forscher den Rüssel hochpräzise und schnell ansteuern, so dass er beliebige Bewegungen vollführt. Die künstlichen Muskeln dienen dabei zugleich als Nerven des Systems – die Drähte selbst haben Sensoreigenschaften. „Jede Verformung der Drähte bewirkt eine Änderung des elektrischen Widerstands und lässt sich präzisen Messwerten zuordnen. Anhand der Messwerte wissen wir genau, in welcher Position welches der Drahtbündel gerade verformt ist, und können so auch sensorische Daten ablesen“, erklärt Doktorand Yannik Goergen, der den Rüssel im Rahmen seiner Promotion entwickelt hat. Die Ingenieure modellieren und programmieren mit diesen Werten Bewegungsabläufe, entwickeln hierfür intelligente Algorithmen und trainieren so den bionischen Rüssel. Seine Spitze können sie mit zusätzlichen Funktionen ausstatten: etwa einem Greifer oder einem Kamerasystem. Auch könnte der Rüssel einen Schlauch tragen, der präzise Flüssigkeiten abgibt oder abpumpt.

Hintergrund:
Die Forscher arbeiteten beim bionischen Rüssel zusammen mit der Festo-Unternehmensgruppe. An der Technologie forschen auch viele Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen ihrer Doktorarbeiten. Sie ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und wurde im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte gefördert: so förderte etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft  (DFG SPP 2100 Soft Materials Robotics) und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz diese Forschung (im Rahmen des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand ZIM, Projekt "AutoEndoskop" – Inspektion von komplexen Bauteilen, Turbinen).


Die Ergebnisse der anwendungsorientierten Forschung wollen die Forscher in die Industriepraxis bringen, hierzu haben sie aus dem Lehrstuhl heraus die Firma mateligent GmbH gegründet.

Fragen beantwortet:
Prof. Dr. Stefan Seelecke, Lehrstuhl für intelligente Materialsysteme:
+49 (681) 302-71341; stefan.seelecke@imsl.uni-saarland.de
Prof. Dr. Paul Motzki, Professur Smarte Materialsysteme für innovative Produktion,
+49 (681) 85787-545; E-Mail: paul.motzki@uni-saarland.de
Sophie Nalbach, M.Sc., Bereichsleiterin Smarte Materialsysteme
+49 (681) 85787 – 910; sophie.nalbach@imsl.uni-saarland.de

Weitere Informationen:

https://imsl.de/projekte - Videos zu den Projekten des Lehrstuhls
https://imsl.de - Lehrstuhl für intelligente Materialsysteme
https://mateligent.de - Spin off mateligent GmbH
https://zema.de/ - Am Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema) in Saarbrücken arbeiten Universität des Saarlandes, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (htwsaar) und Industriepartner zusammen.

English version:

Hannover Messe
Bionic robot arms as flexible and gentle as an elephant's trunk

Artificial muscles and nerves made from the shape memory alloy nickel-titanium are making robot arms as supple and agile as their animal counterparts. But these artificial limbs also weigh less, will work tirelessly and can be precisely controlled. The bionic robot arms that are being developed by Professor Stefan Seelecke's research team at Saarland University in collaboration with the German automation specialist Festo consume very little electric power and can work safely with humans. The research team will be presenting the technology at this year’s Hannover Messe from 17 to 21 April (Hall 2, Stand B34).

Today's industrial robots are powerful, fast and highly precise, but they are also heavy and potentially life-threatening. Anyone who works with these machines has to be careful, being struck by an industrial robot arm can have painful consequences. If people are to work side by side and hand in hand with robots, the robots will, quite literally, need to become softer. The research team led by Professor Stefan Seelecke, a specialist in intelligent material systems at Saarland University, is developing a robot arm that does not incorporate any heavy metal parts at all.

The researchers in Saarbrücken have drawn inspiration from the natural world, specifically, the elephant's trunk. 'The trunk of an elephant is an evolutionary success story that has had millions of years to adapt and to prove itself in practice,' explained Stefan Seelecke. The slender trunk-like robotic arm that the research team is developing can swing, sway, and bend in all directions. Unlike the heavy, articulated metal arms used in today's industrial robots, the new robot arm is not attached to a bulky joint that only allows movement in certain directions. And just like an elephant's trunk contains no bones, the robotic trunk does not have any rigid metal framework. Its suppleness and manoeuvrability come from the clever way in which its artificial muscles interact with each other.

'By using smart material systems, we are able to create bendable and soft robotic tools that are much lighter and much more flexible than the devices in use today. They don’t need to be driven by motors or by hydraulic or pneumatic systems – all they need is a little electric power. That makes our technology sustainable, cost-effective and quiet,' said Stefan Seelecke. His research group at Saarland University and at the Center for Mechatronics and Automation Technology in Saarbrücken (ZeMA) is developing different types of artificial muscles for use in smart robotic trunks and tentacles. The engineers make use of smart polymers and shape memory alloys when designing these systems. The team is showcasing a new prototype robotic trunk at this year's Hannover Messe. They will be demonstrating the capabilities of the 30 centimetre-long proboscis whose 'muscles' and 'nerves' are made from nickel-titanium wire bundles. 'The technology we're developing is scalable and can be used in large robot arms for industrial applications,' said Seelecke.

Artificial muscles made from nickel-titanium wires can contract like the muscles in living organisms. They can, on command, be made shorter (muscle contraction) and then made longer again (muscle relaxation). The ability of nickel-titanium to behave in this way is because the alloy possesses the unusual property of shape memory, i.e. the material is able to 'remember' its original shape and to return to it after being deformed. If a nickel-titanium wire is heated, for example by an electric current, it will become shorter. When the current is switched off, the wire cools down and returns to its original length. The reason for this behaviour lies in the crystal structure of the alloy. 'Heating the alloy induces solid-state phase transitions,' explained Professor Paul Motzki, who conducts research with Stefan Seelecke and holds a cross-institutional professorship in the field of smart material systems for innovative production at Saarland University and ZeMA. Unlike liquid water, for example, which changes state and becomes gaseous when heated, nickel-titanium remains in the solid state, but its crystal structure undergoes a transformation.

The engineers construct the robotic trunk from a large number of artificial muscle strands. Just as human muscle tissue is made from bundles of muscle fibres, the artificial muscle strands comprise bundles of ultrafine shape-memory wires. These bundles of ultrathin wires provide a large surface area through which they can transfer heat, which means they cool down and relax more rapidly after contraction. And they're strong, too. 'The wires have the highest energy density of all known drive mechanisms and they can deliver a substantial tensile force. That enables us to build powerful drive technologies in very small spaces, something that would otherwise be impossible,' explained Professor Motzki. By threading the wire bundles through a series of round thin plastic discs, the wire bundles maintain the spacing between the discs, thus creating segments of the trunk-like structure. When they join several of these segments together, the researchers can build an entire trunk, with the size of the discs becoming smaller towards the tapered end of the trunk.

By applying electrical currents, the research team can flex the muscles in the trunk. Shortening the artificial muscle strands on one side of a muscle segment causes the trunk to bend outwards at the desired angle at that location. By controlling how the individual wire bundles are activated, the artificial muscles can be made to flex and extend to create flowing sequences of movements. Without any need for additional sensors, the researchers can thus control the position of the trunk quickly and precisely and thus make it perform almost any sequence of movements. Extra sensors are not needed because the artificial muscles themselves have sensory properties, which allows them to also act as a kind of internal nervous system. ‘Every distortion of the wires causes a change in electrical resistance, which allows us to assign a precise resistance value to any specific deformation of the wire. Using these resistance values, we know exactly how a particular wire bundle is currently deformed, which essentially imparts sensory properties to the system,' explained doctoral student Yannik Goergen, who developed the artificial trunk as part of his doctoral research project. To train the bionic trunk, the engineers use these values to model and program movement sequences, which itself involves developing intelligent algorithms for this purpose. They can also equip the tip of the trunk with additional functions, such as a gripper tool or a camera system. The trunk could also be fitted with a hose that could precisely dispense or pump out fluids.

Background:
The research work on the bionic trunk was carried out in collaboration with the Festo Group. This technology continues to be developed by PhD students who are conducting research as part of their doctoral dissertation projects. The results have been published as papers in a variety of scientific journals. The research work has also received support from numerous sources. For example, the German Research Foundation (DFG) has provided funding through the project 'DFG SPP 2100 Soft Materials Robotics' and the Federal Ministry for Economic Affairs and Climate Action (BMWK) has funded the project 'AutoEndoskop – Inspection of Complex Components, Turbines', which is part of the federal innovation programme for medium-sized companies ZIM.
The company ‘mateligent GmbH’ was spun off from Professor Seelecke's department to facilitate the transfer of the results of their applications-driven research to commercial and industrial applications.

Questions can be addressed to:
Prof. Dr. Stefan Seelecke, Intelligent Material Systems Lab, Saarland University:
+49 681 302-71341; stefan.seelecke@imsl.uni-saarland.de
Prof. Dr. Paul Motzki, Smart Material Systems for Innovative Production,
+49 681 85787-545; Email: paul.motzki@uni-saarland.de
Sophie Nalbach, M.Sc., Group leader, Smart Materials Systems (ZeMA)
+49 681 85787-910; sophie.nalbach@imsl.uni-saarland.de

Further information:
https://imsl.de/projekte - Videos
https://imsl.de – Intelligent Material Systems Lab
https://mateligent.de – mateligent GmbH
https://zema.de/ – Center for Mechatronics and Automation Technology (ZeMA) in Saarbrücken (a research hub for collaborative projects involving researchers from Saarland University, Saarland University of Applied Sciences (htw saar) and industrial partners.

Pressefotos zum Download:
Die Pressefotos können Sie mit Namensnennung des Fotografen als Fotonachweis honorarfrei in Zusammenhang mit dieser Pressemitteilung und der Berichterstattung über die Universität des Saarlandes verwenden.
Press photographs:
Press photographs can be used free of charge with this press release or in connection with reports about Saarland University provided that a photo credit with the photographer’s name is included.