Manchmal endet die Forschung dort, wo es anfängt, spannend zu werden. So erging es der Informatikerin Brahmani Nutakki, die bei Professor Ingmar Weber am Institut für Societal Computing der Universität des Saarlandes promoviert. Gemeinsam mit den Saarbrücker Politikwissenschaftlern Rosa M. Navarrete und Giuseppe Carteny analysierte sie über einen Zeitraum von zwei Jahren die Tweets von 6550 Twitter-Konten, die rund 8600 Politikerinnen und Politikern in zwölf Ländern zugeordnet werden konnten. „Diese Analysen mussten wir leider im Juni 2023 beenden, weil Elon Musk, der Twitter im Oktober 2022 übernommen hat, den bisher freien Datenzugang für die Forschung geblockt hat“, erklärt Brahmani Nutakki. Sie konnte dennoch wichtige Erkenntnisse aus den bis dahin gesammelten Daten ziehen. Diese wurde jetzt in dem renommierten Fachmagazin „Journal of Quantitative Description“ frei zugänglich veröffentlicht.
Das Forscherteam wählte zwölf Länder aus, in denen die höchsten Nutzeraktivitäten auf der Plattform Twitter (heute X) zu beobachten waren. Dazu zählten Argentinien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Indien, Japan, Kanada, Kolumbien, Mexiko, Spanien, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten. In jedem Land teilten sie die in den Parlamenten vertretenen Politikerinnen und Politiker in zwei Gruppen ein, je nachdem, ob sie mehr einer linken oder rechten politischen Strömung zugeordnet werden konnten. „Wir haben uns der Einfachheit halber für diese binäre Unterscheidung entschieden, denn die Verwendung von ‚links‘ und ‚rechts‘ zur Bezeichnung bestimmter politischer Positionen ist weitgehend universell. Um die Politiker und Parteien passend zuzuordnen, haben wir verschiedene Quellen wie Expertenbefragungen und Parteiprogramme herangezogen“, erläutert die Politikwissenschaftlerin Rosa M. Navarrete.
Bei der Auswertung von mehreren Tausend Tweets pro Politiker konnte die Forschergruppe in allen Ländern keine signifikanten Unterschiede zwischen der Verbreitung der Tweets von linken oder rechten Politikern erkennen. „Wir konnten lediglich feststellen, dass es einen Anstieg der Likes gab sowie der Likes pro Retweet. Es gab im untersuchten Zeitraum von 2021 bis 2023 zudem einen deutlichen Rückgang der Retweets nach der Übernahme von Musk. Das führen wir darauf zurück, das frühe Follower sich stärker engagieren und Inhalte aktiver unterstützen. Wenn die politischen Botschaften hingegen an ein breiteres Publikum gestreut werden, ist es wahrscheinlicher, dass dies zu höheren Likes, aber zu weniger Retweets führt“, erklärt Brahmani Nutakki. Die Forscherin nutzte für ihre Analysen „Likes“ anstelle von „Views“, da diese erst unter Elon Musk eingeführt wurden und für frühere Tweets nicht verfügbar waren. Sie konnte nach deren Einführung jedoch eine Korrelation zwischen Likes und Views feststellen.
Die Informatikerin weist darauf hin, dass sie bei der Auswertung der riesigen Datenmengen mit einigen Problemen konfrontiert war, die vor allem mit den dynamischen Veränderungen der Twitter-Plattform zwischen November 2022 und Juni 2023 zusammenhingen. Damals wurde zum Beispiel Twitter Blue in ein günstiges Abo verwandelt, für das man lediglich eine Telefonnummer hinterlegen und nicht wie bisher einen besonderen Bekanntheitsgrad und hohe Nutzeraktivität aufweisen musste. Diese Regelung wurde dann vorübergehend wieder entfernt. Ähnlich erging es den Regeln gegen Hassverhalten, die Angriffe auf Einzelpersonen verhindern sollten und nach der Übernahme durch Musk wieder entfernt wurden. „Änderungen bei den Funktionen wirkten sich auch darauf aus, dass dann andere Personen die Plattform nutzten. So war es schwierig, die von uns beobachtenden Veränderungen mit einer einzelnen Maßnahme zu erklären“, sagt Brahmani Nutakki.
„Nach unserer Kenntnis ist dies die erste Studie, die eine zeitliche und globale Analyse der politischen Engagement-Trends nach den jüngsten Änderungen bei Twitter aufweist. Unsere Ergebnisse zeigen, dass seitdem politische Inhalte ein breiteres Publikum erreicht haben. In dem Zeitraum bis Juni 2023 fanden wir jedoch keine Anhaltspunkte für einen signifikanten Unterschied in den Engagement-Mustern zwischen dem linken und rechten politischen Spektrum“, erklärt Humboldt-Professor Ingmar Weber. Der Forscher verweist auf einen Bericht der „Washington Post“ im vergangenen Oktober, nach dem die am meisten twitternden Republikaner mehr posten, mehr Aufrufe erhalten und mehr Follower haben als die am meisten dort engagierten Demokraten, obwohl sie keine Hinweise auf Plattformzensur fanden. Andere Beobachter zeigten auf, dass Twitter/X nach der Übernahme durch Elon Musk ein problematisches Umfeld geschaffen habe, da gemeldete hasserfüllte Tweets nicht mehr entfernt werden und viele gesperrte Konten wieder aktiviert wurden.
„Diese Veränderungen in den sozialen Netzwerken wie Twitter/X, die besorgniserregend sind und die Demokratien in vielen Ländern gefährden, müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiterhin beobachten können. Wir fordern daher, dass Rechtsvorschriften wie Artikel 40 des Gesetzes über digitale Dienste (Digital Services Act) umgesetzt werden, damit die Forschung wieder einen besseren Zugang zu den Daten der sozialen Netzwerke erhält. Es kann nicht sein, dass dieser Datenpool entweder unbezahlbar ist oder so selektiv geöffnet wird, dass sich keine seriösen Erhebungen daraus ableiten lassen“, mahnt Professor Ingmar Weber.
Hintergrund: Interdisciplinary Institute for Societal Computing (I2SC)
Das Institut fördert die interdisziplinäre Forschung an der Saar-Universität und bietet eine Plattform für den Austausch zwischen Sozial-, Geistes- und Computerwissenschaften. Die Leitung haben Ingmar Weber, Humboldt-Professor für Künstliche Intelligenz, und Daniela Braun, Professorin für Politikwissenschaft übernommen. Die Forschungsarbeit des Instituts teilt sich in zwei Hauptbereiche: Computing der Gesellschaft und Computing für die Gesellschaft. Der erste Schwerpunkt konzentriert sich auf den Einsatz von computerbasierten Methoden, um soziale Phänomene zu erforschen. Im zweiten Schwerpunkt geht es darum, mit diesen Methoden Ansätze zu entwickeln, um das gesellschaftliche Zusammenleben zu verbessern.
Weitere Informationen: www.i2sc.net
Originalpublikation: „Is there anything Left? A Global Analysis on Changes in Engagement with Political Content on Twitter in the Musk Era”, Brahmani Nutakki, Rosa M. Navarrete, Giuseppe Carteny und Ingmar Weber, Interdisciplinary Institute for Societal Computing (I2SC), Universität des Saarlandes
Journal of Quantitative Description: https://journalqd.org/article/view/8875/7391
DOI: https://doi.org/10.51685/jqd.2025.004
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Prof. Dr. Ingmar Weber
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E-Mail: iweber(at)cs.uni-saarland.de
Dr. Rosa Navarrete
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Tel: +49 681 302-2368
E-Mail: rosa.navarrete(at)uni-saarland.de
Brahmani Nutakki
Scientific Researcher
Tel: +49 681 302-70789
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