Sonderforschungsbereich
SFB 1027: Physikalische Modellierung von Nicht-Gleichgewichtsprozessen in biologischen Systemen
"Nicht-Gleichgewicht" ist ein Konzept der Physik und bezeichnet einen Zustand von Materie außerhalb es thermodynamischen Gleichgewichts. Die meisten Systeme in der Natur sind nicht im thermodynamischen Gleichgewicht, da sie sich nicht in einem stationären Zustand befinden und beständig oder abrupt einem Aus- oder Einstrom von Teilchen und Energie unterliegen. Nahezu alle dynamischen Prozesse in lebenden Zellen konsumieren Energie in der Form von ATP. Gemeinhin als „aktive“ Prozesse bezeichnet, sind sie manifest Nicht-Gleichgewichts-prozesse und umfassen: Reorganisation des Zytoskeletts, intrazellulärer Transport, Zell-Migration, Zell-Polarisation, Transmembran-Ionentransport, Exozytose oder Endozytose, intrazelluläre Konzentrations-Oszillationen, Spikes, Wellen, etc. Auf dem molekularen Level umfassen ATP-verbrauchende Prozesse Polymerisierung von Aktinfilamenten und Mikrotubuli, molekularer motorgetriebener Transport entlang von Zytoskelett-Filamenten, Ionentransport durch Membrane mittels Pumpen, kinetisches „Proofreading“ bei der Proteinsynthese und bei der T-Zell-Rezeptor-Signaltransduktion, und viele mehr. Und schließlich, auf einer größeren Skala, die Aggregation und zeitliche Entwicklung von Protein- und Bakterienfilmen sowie Gewebe-Bildung und -Remodellierung. Aktive dynamische Prozesse involvieren die Kooperation vieler Teilchen, weshalb das Verständnis kollektiver Effekte, die im Zusammenspiel der beteiligten Konstituenten in Erscheinung treten, eine wichtige Rolle. In biologischen Systemen ist das Konzept der Musterbildung allgegenwärtig, sowohl auf der makroskopischen (z.B. während der Entwicklung von Organismen) als auch auf mikroskopischer Skala (z.B. bei Aktin-Polymerisierung, der Verteilung von adhäsiven Arealen auf der Bakterien-Membran oder inter- und intrazellulären Konzentrations-Wellen). So wie offensichtlich die unterschiedlichen Aggregatzustände des Wassers nicht von den Eigenschaften eines einzelnen Wassermoleküls abgelesen werden können ist es klar, dass dynamische Phänomene wie die Entstehung von Lamellipodien während der Zell-Migration nicht auf der Basis der Kenntnis von Eigenschaften individueller Aktin-Monomere, molekularen Motoren und Nukleatoren alleine verstanden werden kann. Mehr als die Einzelmolekülinformation (Identifikation, Sequenz und Struktur) ist notwendig, um die Emergenz von zellulären und sub-zellulären Funktionen zu verstehen. Die Identifikation, quantitative Analyse und vor allem die theoretische Modellierung dieser kooperativen, dynamischen Nicht-Gleichgewichtsphänomene sind die zentralen Fokusse dieses SFB.