Schwabylon. Ausgrabungen in der Zukunft der Stadt

Recherche, Ausstellung und Buchprojekt, 2023-2025

Projektleitung: Jun.- Prof. Dr. Simone Egger, Max Zeidler

München wird moderner

Im September 1964 wurde München vom Magazin Spiegel zu „Deutschlands Heimlicher Hauptstadt“ ernannt. „Denn nirgendwo sonst gibt es dieses magische Mixtum von Urwüchsigkeit und Urbanität: ein ,Millionendorfʻ (,Süddeutsche Zeitungʻ) als Metropolis.“[1] Auch andere Darstellungen zeichneten ein geradezu euphorisches Bild von der aufstrebenden Großstadt im Süden der Bundesrepublik. Mit den langen 1960er Jahren erfuhr die ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“ einen unvergleichlichen ökonomischen und kulturellen Aufschwung und erhielt im Frühjahr 1966 schließlich den Zuschlag für ein Ereignis von Weltrang: im Blickpunkt internationaler Aufmerksamkeit wurden 1972 die XX. Olympischen Sommerspiele in der bayerischen Landeshauptstadt ausgetragen. München ist im Zeitraum von 1958 bis etwa 1973 moderner gemacht worden.[2]

Die selbst ernannte „Weltstadt mit Herz“ (1962) war besonders bei jungen Menschen beliebt. München galt wie New York, Paris oder Amsterdam als Magnet. Vor allem Schwabing war ein viel frequentiertes Quartier, zwischen Leopoldstraße und Englischem Garten erlebte das historische Künstler*innenviertel eine zweite Blüte nach seiner großen Zeit um 1900. Die Samy-Brüder und die Presseagentur intervox – u.a. in Person von Max Zeidler (1937-2007) – machten mit spektakulären Konzepten für Bars und Nachtlokale noch in der alten Bausubstanz von sich reden – während sich das ökonomische Kapital wieder sammelte und Schwabing so attraktiv wurde, dass in München wohl erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Gentrifizierung eines Stadtteils zu beobachten war.

 

Schwabylon

Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen, befasst sich das Recherche- und Vermittlungsprojekt von Simone Egger und Max Zeidler mit einem Ort, von dem nur noch Bruchstücke geblieben sind. Im Norden von Schwabing als Freizeit- und Einkaufstadt im Geiste des visionären österreichischen Planers Victor Gruen(berg) konzipiert, sollte das komplette „Schwabylon“ lediglich in den Jahren von 1973 bis 1979 existieren.[3] Das ursprüngliche Vorhaben, diverse Nutzungen, kommerzielle und nicht kommerzielle, öffentliche und private Räume miteinander zu verbinden, wurde in der Form überhaupt nie realisiert. Die avantgardistische Anlage, allen voran der Bau der zentralen Pyramide mit der gelb-orange-roten Sonne – ein spektakulärer Entwurf des Züricher Architekten Justus Dahinden – ist wie das nebenan gelegene „Yellow Submarine“ (1971-2013), der spektakuläre Nachtclub eines Hotels, heute ein vielfach zitierter, aber kaum zu greifender Mythos der neueren und neuesten Münchner Geschichte. Verwirrend ist noch immer, dass sowohl das zentrale Gebäude mit dem markanten Schriftzug (der sogenannte „Pop-Bunker") als „Schwabylon“ bezeichnet wurde als auch der Gesamtkomplex mit allen Gebäuden.

Im „Schwabylon“ verbinden sich Aspekte einer modernen, in die Zukunft gerichteten Stadtentwicklung mit popkulturellen Momenten, sozialen Möglichkeitsräumen und ökonomischen Interessen zu einer gebauten Utopie, die in dynamischen Zeiten realisiert worden ist. Die Fertigstellung der Anlage war bereits für das Olympiajahr 1972 geplant. „Die Grundidee für den Bau dieser gigantischen Anlage war die Vorstellung des Augsburger Bauunternehmers und Landmaschinenherstellers Otto Schnitzenbaumer, man müßte dem Menschen in der Großstadt die Möglichkeit bieten, seine immer länger werdende Freizeit auch innerhalb der Stadt selbst abwechslungs- und vergnügungsreich gestalten zu können. (...) Es gab 100 Geschäfte und Boutiquen in mehreren Einkaufsstraßen. Es gab Gaststätten, Snackbars, Cafés und einen Biergarten in einer ‚Freßgasse‘. Es gab ein Schwimmbad mit Tropengarten, zwei Saunen, Massageräume, ein Römisches Dampfbad und eine Eisarena mit den Ausmaßen von 56x26 Metern, in der kein Geringerer als Olympiasieger Manfred Schnelldorfer als Chef in Erscheinung trat. Und es gab 600 Betten in dem schon vor den Olympischen Spielen eröffneten ‚Holiday Inn‘ mit seiner Haifischbar. Und schließlich auch noch ein eigenes Ärztehaus, und … 660 Ein- bis Vierzimmerwohnungen in einem angegliederten ‚Wohncenter‘.“[4] Im Norden der Leopoldstraße sollte das alte Schwabing auf zeitgenössische Weise fortgesetzt werden – in einem Gesamtbauprojekt aus Einkaufs-, Freizeit- und Bürogebäuden, Wohnhochhäusern und Hotel, von dem gegenwärtig nur noch einzelne Bauten erhalten sind. Am Übergang zur Postmoderne war offenkundig kein Platz für eine derart vielschichtig angelegte Stadt in der Stadt. Wenn heute nach solchen Formen gesucht wird, kann das „Schwabylon“ konzeptuell als Blaupause fungieren. Der Ambivalenz von Entwurf und Ausführung sowie den Interessenskonflikten nachzuspüren, die das Experiment letztlich enden ließen, ist ein wesentliches Ziel des Projekts. Im Fokus aber steht die Vision: was hätte das „Schwabylon“ sein können und was lässt sich daraus für die Stadt der Zukunft ableiten? 

 

Ausgrabungen in der Zukunft der Stadt

Simone Egger und Max Zeidler reagieren mit ihrer Arbeit auf ein anhaltendes öffentliches Interesse am Thema, zu dem immer wieder Anfragen kommen und auch künstlerische Arbeiten entstehen. Das Recherche- und Vermittlungsprojekt wird sich dem „Schwabylon“ aus verschiedenen Perspektiven nähern. Ganz zentral wird es um das Programm der Freizeit- und Einkaufsstadt gehen. Was ist dort inhaltlich passiert? Wer war beteiligt? Was war geplant? Was wäre im „Schwabylon“ möglich gewesen und woran ist die Umsetzung gescheitert? Was war das Utopische an diesem besonderen Ort? Recherchiert wird in Archiven, bei öffentlichen Institutionen, aber auch in privaten Sammlungen und sonstigen Beständen, die die Zeit überdauert haben. Darüber hinaus sollen Zeitzeug*innen zu Wort kommen – so etwa ein noch lebender, am Bau direkt beteiligter Architekt –, Bewohner*innen können ihre Erinnerungen an diese Begebenheit der Münchner Stadtgeschichte aufleben lassen und erzählen, was München in jenen Jahren so anziehend und modern gemacht hat.

Im Sinne einer diversen Kulturgeschichte städtischer Prozesse und Phänomene sollen aber insbesondere auch Stimmen von Menschen einfließen, die bisher nie zu Wort gekommen sind – wie etwa die der an der Umsetzung beteiligten Gastarbeiter, die in der Zeit nach München gekommen und ihrerseits zu Bewohner*innen geworden sind.[5] Über persönliche Kontakte in die Baubranche und andere Netzwerke werden wir denjenigen nachspüren, die mit ihren Händen etwas materialisiert haben, das schon kurz darauf drastisch an Wert verlieren sollte. Was für eine Ära ist mit den Olympischen Spielen beschlossen worden? Wohin hat sich die Internationalisierung der Stadt entwickelt? Von Interesse ist nicht zuletzt, was das Ende der steilen Erfolgskurve in der Münchner Geschichte in den langen 1960er Jahren (1958-1972) eingeläutet und das Aus des „Schwabylon“ nach nur sechs Jahren besiegelt hat. Wie hängt das kurze Leben der Freizeitstadt in der nördlichen Leopoldstraße beispielsweise mit der weltweiten Ölkrise zusammen? Die Rede von den „Ausgrabungen in der Zukunft der Stadt“ lehnt sich an den programmatischen Untertitel des US-amerikanischen Stadtforschers Mike Davis an, der sich in seinem Band „City of Quarz“ so vielschichtig und kritisch wie kein anderer mit der Biografie von Los Angeles auseinandergesetzt hat.[6]

 


[1] München. O’zapft is. In: Der Spiegel. Deutschlands heimliche Hauptstadt, Nr. 39/23. September 1964, S. 42-52. Hier: S. 42.

[2] Egger, Simone: München wird moderner. Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren. Bielefeld 2013.

[3] Baldauf, Anette: Mall. Stadt. Welt. In: Gruen, Victor: Shopping Town. Memoiren eines Stadtplaners (1903-1980). Hg. von Anette Baldauf. Wien; Köln; Weimar 2014, S. 11-39.

[4] Schwabylon: Mieter darf doch bleiben. In: tz, 30. Dezember 1974. In: Stadtarchiv München: Presseamt, Zeitungsausschnitte – Schwabylon.

[5] Czollek, Max: Manifest der pluralistischen Erinnerung 2022. https://www.swr.de/swr2/literatur/manifest-der-pluralistischen-erinnerung-100.html#I.%20%E2%80%9EWir%E2%80%9C%20gibt%20Es%20Nur%20Im%20Plural, (15. Juni 2023).

[6] Davis, Mike: City of Quartz: Excavating the future of Los Angeles. London; New York 1990.

Gefördert durch:

  • Abteilung Public History, Kulturreferat der Landeshauptstadt München

In den Medien:

  • Sonnabend, Lisa: 50 Jahre Schwabylon. Als München verrückt spielte. In: Süddeutsche Zeitung, 3. Februar 2024. Verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de (5. Februar 2024).

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