Examensrelevant

 

Unter der Rubrik examensrelevante Rechtsprechung wollen wir in Zukunft auf aktuelle Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aufmerksam machen. Diese werden nur äußerst knapp zusammengefasst (meist beschränkt sich der Text auf Leit- und redaktionelle Orientierungssätze), um Interessierte zur Lektüre der Entscheidungsgründe und/oder der dazugehörigen Anmerkungen zu motivieren. Es handelt sich um Urteile/Beschlüsse, die aufgrund der behandelten Themen oder einschlägigen Rechtsvorschriften nach unserer Einschätzung für das Erste Staatsexamen von Relevanz sein könnten (überwiegend also Entscheidungen, welche die Auslegung des materiellen Strafrechts und die Vorschriften der StPO betreffen). Dieser zusätzliche "Service" tritt neben das hervorragende Angebot "Montagspost" der Saarbrücker Rechtsinformatik, welche den Abonnenten die Möglichkeit eröffnet, sich BGH-Entscheidungen, zugeschnitten auf individuelle Interessen, zukommen zu lassen.

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Montagspost

 

 

Examensrelevante Rechtsprechung – Oktober 2024 Wiss. Mit. Rosa Mayer-Eschenbach

Taterfolg der absichtlichen schweren Körperverletzung
BGH, Beschl.  v. 17.04.2024 − 1 StR 403/23, NStZ 2024, 611 mAnm Kudlich/Schütz

§ 226 Abs. 1 StGB regelt die schwere Körperverletzung als Erfolgsqualifikation. Im Rahmen des Abs. 1 ist der Eintritt der schweren Folge ausreichend. Was als schwere Folge einer Körperverletzung anzusehen ist, ist in den Nummern 1-3 des § 226 Abs. 1 StGB genannt. In dem Beschluss vom 17.04.2024 beschäftigt sich der Erste Strafsenat damit, welche Anforderungen an das Vorliegen einer „schweren Folge“ im Sinne der Norm gestellt werden und wann der Tatbestand dennoch nicht erfüllt ist. Der Entscheidung des BGH lag folgender Fall zugrunde: Der Angeklagte (Facharzt für Allgemeinchirurgie) sterilisierte aufgrund einer Personenverwechslung anstelle des Patienten P1 den Patienten P2. A erkannte seinen Irrtum, legte diesen gegenüber P1 sofort offen und überweis ihn an einen Spezialisten zur Resterilisation. Im Kontext der Frage eines denkbaren Rücktritts erläutert der BGH, dass die schwere Folge i.S.d. § 226 länger andauern müsse; die Langwierigkeit sei damit (ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal. Einschränkend bzw. klarstellend führt der Erste Senat jedoch aus, dass die geforderte „längere Dauer“ nicht mit Unheilbarkeit gleichzusetzen sei. Es genügt, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung des – länger währenden – krankhaften Zustands nicht abzusehen ist. Andererseits kommt es dem Täter zugute, wenn die zumindest teilweise Wiederherstellung konkret wahrscheinlich ist. Für die Beurteilung ist im Grundsatz der Zeitpunkt des Urteils maßgebend. (vgl. 2. Leitsatz BGH a.a.O, NStZ 2024, 611) So verhielt es sich in dem vorliegenden Fall: Es fehlte an dem Eintritt der schweren Folge, weil die Zeugungsfähigkeit des P1 2 Wochen nach der Vasektomie jedenfalls nicht ausschließbar wiederhergestellt werden konnte. Hingegen befasst sich der Senat nicht mit der ebenso naheliegenden Frage eines Erlaubnistatbestandsirrtums (hierzu Kudlich/Schütz NStZ 2024, 611).

Tateinheitliche Begehung von Raub und räuberischer Erpressung
BGH, Beschl. v. 14.05.2024 – 3 StR 121/23, BeckRS 2024, 14542

Der Raub gem. § 249 Abs. 1 StGB ist ein echter „Examensklassiker“. Regelmäßig hat in der Klausurprüfung die Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung (§ 253 StGB) zu erfolgen. Nicht immer ist es allerdings entweder das eine oder das andere Delikt: Das LG Kleve hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem die Angeklagten A und B sich dazu entschieden, den Geschädigten (G) körperlich anzugreifen und zur Herausgabe bzw. Duldung der Wegnahme von Drogen und Bargeld zu veranlassen. A schlug den G, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, ins Gesicht. Der G händigte daraufhin das Heroin an A aus. Währenddessen griff B ihm in die Tasche und entnahm das Bargeld. Das LG Kleve ging hier von einer gemeinschaftlichen räuberischen Erpressung aus. Der Dritte Strafsenat führte dazu aus: Raub und räuberische Erpressung sind nach dem äußeren Erscheinungsbild voneinander abzugrenzen. Tateinheit zwischen den beiden Delikten kann vorliegen, wenn eine Sache unter Anwendung von körperlicher Gewalt weggenommen wird (Raub) und eine andere Sache eingedenk der Gewaltanwendung bzw. -androhung herausgegeben wird (räub. Erpressung).

Kfz-Erstzulassung und Beweiskraft öffentlicher Urkunden
BGH, Beschl. v. 23.07.2024 – 1 StR 73/24, NJW 2024, 2776

Zulassungsbescheinigung Teil I und II begegnen Examenskandidaten immer wieder, sobald sich der Sachverhalt um Autokauf etc. dreht. In dem vorliegenden Beschluss hat sich der BGH mit der Strafbarkeit von Beamten des Straßenverkehrsamts beschäftigt, die die Zulassungsbescheinigung Teil II mit falschem Erstzulassungsdatum ausgestellt haben. Der BGH kam – anders als die Vorinstanz, die die Beamten wegen § 348 StGB (Falschbeurkundung im Amt) verurteilt hatte – zu dem Schluss, dass jedenfalls das Erstzulassungsdatum eines Kfz keine Tatsache sei, die im sog. „Fahrzeugbrief“ mit der besonderen Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde iSd. § 348 StGB beurkundet wird. Der Senat erläutert weiter, welche Urkunden vom Begriff der öffentlichen Urkunde umfasst sind und welche Tatsachen der erhöhten Beweiskraft unterliegen.

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Examensrelevante Rechtsprechung – Oktober 2024 Wiss. Mit. Fatih-Anil Uzun

Beteiligung an einer Schlägerei und der Strafbarkeitsausschluss nach § 231 Abs. 2 StGB
BGH, Urt. v. 27.03.2023 – 2 StR 337/23, BeckRS 2024, 10944
Die Entscheidung des Zweiten Strafsenats enthält einige spannende Ausführungen zum Strafbarkeitsausschluss
nach § 231 Abs. 2 StGB. § 231 StGB wurde in den letzten Jahren häufiger in Examensklausuren abgefragt,
sodass es sich lohnt, sich mit diesem Tatbestand und der dazugehörigen Rechtsprechung näher zu befassen.
Der BGH erläutert, dass der Strafbarkeitsausschluss nach § 231 Abs. 2 StGB eingreift, wenn zu Gunsten des
Beteiligten ein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund vorliegt. In diesem Zusammenhang stellt er außerdem
klar, dass es nicht genügt, wenn einzelne Handlungen gerechtfertigt oder entschuldigt sind. Erforderlich
sei, dass der Beteiligte zu keinem Zeitpunkt vorwerfbar am Gesamtgeschehen teilgenommen hat. 

„Wash-Wash-Verfahren“
OLG Hamm, Urt. v. 07.12.2023 – 4 ORs 111/23, BeckRS 2023
Das OLG Hamm hat sich zum „Wash-Wash-Verfahren“ geäußert, bei der gleich zwei examensrelevante
Tatbestände im Mittelpunkt stehen. Beim „Wash-Wash-Trick“ geht es um die Vortäuschung der Fähigkeit,
Geldscheine zu vermehren. Zum einen spielt die Abgrenzung zwischen Trickdiebstahl und Sachbetrug eine
Rolle, zum anderen das unmittelbare Ansetzen zum Versuch. Bei der Abgrenzung sollte der Fokus darauf
gerichtet sein, ob der Geschädigte seinen Gewahrsam an den Geldscheinen lediglich lockern soll, sodass sich
der Täter durch einen Trick dann unbemerkt die Geldscheine an sich nehmen kann, oder durch Täuschung
dazu bewegt werden soll, dem Täter den Gewahrsam an den Geldscheinen vollständig zu übertragen, weil das
Geld bspw. an einen anderen Ort verbracht werden muss. Diese relevante Unterscheidung wirkt sich sodann
auch auf das unmittelbare Ansetzen aus. Beim versuchten Trickdiebstahl muss sich eine Gewahrsamslockerung
anbahnen. Bei einem versuchten Sachbetrug ist indessen auf die relevante Täuschungshandlung abzustellen,
die den Getäuschten unmittelbar zur irrtumsbedingten Vermögensverfügung bestimmen soll.

Schüsse auf ein Fahrzeug – Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr?
BGH, Beschl. v. 23.04.2024 – 4 StR 87/24
Auf der Autobahn schoss der Angeklagte aus dem vorausfahrenden Fahrzeug in Richtung des Verfolgerfahrzeugs,
das Projektil traf dabei die Motorhaube, wurde auf die Windschutzscheibe abgelenkt und prallte dort ab.
Der BGH geht der Überlegung nach, ob neben anderen erfüllten Tatbeständen auch ein gefährlicher Eingriff
in den Straßenverkehr nach § 315 b I StGB vorliegt. Die Annahme des Landgerichts, wonach eine Strafbarkeit
aus § 315b I Nr. 1 StGB zu bejahen sei, lehnt der BGH zunächst ab. Hier fehle es an der Voraussetzung, dass
durch die Beschädigung eines fremden Fahrzeugs auch die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt wurde
(die Beschädigung des Fahrzeugs müsse das Mittel der Gefährdung gebildet haben, dieser also zeitlich und
ursächlich vorausgehen). Doch bejaht der BGH im Anschluss den Auffangtatbestand des § 315b I Nr. 3 StGB:
Hier ist zu beachten, dass nicht jede Sachbeschädigung im Straßenverkehr den Tatbestand des § 315b StGB
erfüllt, aber eine Straßenverkehrsgefährdung zu bejahen sein kann, „wenn die konkrete Gefahr jedenfalls auch
auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen ist“.
Beteiligung an einer Schlägerei und der Strafbarkeitsausschluss nach § 231 Abs. 2 StGB
BGH, Urt. v. 27.03.2023 – 2 StR 337/23, BeckRS 2024, 10944
Schüsse auf ein Fahrzeug – Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr?
BGH, Beschl. v. 23.04.2024 – 4 StR 87/24

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Examensrelevante Rechtsprechung – September 2024 Wiss. HK. Alessandro Mariani

Rücktritt vom beendeten Mordversuch BGH, Urt. v. 10.01.2024 – 6 StR 324/23, NJW 2024, 1282
Der Angekl. versetzte dem Opfer in ihrer Wohnung in Tötungsabsicht mehrere Schläge mit einem Hammer gegen den Hinterkopf. Angesichts des für ihn unerwartet massiven Verletzungsausmaßes ließ er von ihr ab und flüchtete auf die Straße. Dort forderte er – aus panischer Angst um seine Zukunft – zwei Zeuginnen auf, für das von einem „vermeintlichen Einbrecher“ verletzte Opfer Hilfe zu holen. Der Täter handelte hierbei aus einem Schockzustand heraus, wobei ihm der empfundene „innere seelische Druck keine andere Handlungsalternative ließ“. Das Opfer konnte durch rechtzeitig eingeleitete intensivmedizinische Behandlung gerettet werden. Der BGH hatte über die Frage zu entscheiden, ob der Angekl. vom beendeten Mordversuch strafbefreiend zurückgetreten war und verneinte schließlich die Freiwilligkeit mit dem Argument, dass die seelische Erschütterung des Täters ein zwingender Grund für die Verhinderung des Erfolgseintritts war. Bei der zum Zeitpunkt der Rettungsbemühungen vorliegenden Belastungsreaktion hatten sich eine so panische Angst und ein innerer Druck aufgebaut, dass er zu einem selbstbestimmten Handeln nicht mehr in der Lage war.

Beendigung eines Diebstahls und sukzessive Mittäterschaft BGH, Beschl. v. 13.02.2024 – 5 StR 580/23, BeckRS 2024, 4025
Der Angekl. gehörte zu einer Gruppierung, die in Deutschland Autos stahl und diese in Polen veräußerte. Mitglieder dieser Gruppierung entwendeten zwei Kraftfahrzeuge, die sie fünf bzw. zehn Kilometer von den jeweiligen Tatorten entfernt in einem Stadtgebiet abstellten. Daraufhin machten sich der Angekl. und zwei weitere Tatbeteiligte auf den Weg, um diese nach Polen zu überführen. Kurze Zeit später wurden sie von Polizeibeamten, die den Abstellort observiert hatten, festgenommen. Der BGH hob den Schuldspruch des LG wegen schweren Bandendiebstahls gem. §§ 244 I Nr. 2, 244a I, 25 II StGB mit der Begründung auf, dass der Diebstahl bereits beendet und eine sukzessive Mittäterschaft daher nicht mehr möglich war. Die entwendeten Kraftfahrzeuge waren dem Zugriff der Berechtigten bereits entzogen und die Täter haben gesicherten Gewahrsam an ihnen erlangt.

Wirksamkeit einer Einwilligung bei Täuschung BGH, Beschl. v. 19.03.2024 – 3 StR 61/24, BeckRS 2024, 8892
Das Opfer wollte eine „Genitalmodifikation“ vornehmen lassen. In einem Internetforum lernte er hierzu den Angekl. kennen, der als Kellner arbeitete, jedoch bewusst wahrheitswidrig behauptete, er sei ausgebildeter Krankenpfleger. Der Angekl. gab an, bei dem Eingriff hochwertiges Silikonöl zu verwenden. Beide waren sich bewusst, dass Injektionen in Penis und Hodensack mit einer großen Gesundheitsgefahr verbunden sind und letztlich auch zum Tode führen können. Das Opfer stimmte dem Eingriff in dem Glauben an die medizinische Kompetenz des Angekl. zu. Tatsächlich injizierte der Angekl. jedoch mehrfach günstiges, für die Schmierung von Maschinen in der Industrie vorgesehenes Silikonöl. Das Opfer erlitt eine Lungenembolie und verstarb nach sieben Monaten intensivmedizinischer Behandlung. Der BGH entschied, dass eine Einwilligung unwirksam ist, wenn sie durch Täuschung über wesentliche, das Gesundheitsrisiko eines Eingriffs betreffende Umstände erlangt wurde und daher auf einer falschen Vorstellung über den Umfang des Rechtsgutsverzichts beruht.

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Examensrelevante Rechtsprechung – Juli 2024 Wiss. Mit. Aline Thome


Gefährliche Körperverletzung mittels chirurgischer Instrumente
BGH, Beschl. v. 19.12.2023 − 4 StR 325/23, NStZ 2024, 355
Wenn es um die Einstufung eines Tatmittels als gefährliches Werkzeug i.S.d § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB
geht, richtet sich die Bewertung nach der objektiven Beschaffenheit des Gegenstandes und der Art seiner Verwendung
im Einzelfall. Dass dies auch für chirurgische Instrumente gilt, die von einem Arzt im Zuge eines
medizinisch nicht indizierten Heileingriffs bestimmungsgemäß eingesetzt werden, stellt der BGH nun explizit
klar und distanziert sich damit zugleich von der (noch zu § 223a StGB a.F.) ergangenen Rechtsprechung, wonach
eine erhöhte Gefährlichkeit bei bestimmungsgemäßer Verwendung von ärztlichen Geräten mangels Angriffs-
und Verteidigungszwecks verneint wurde. Vielmehr betont der BGH, dass eine erhöhte Gefährlichkeit
nicht von vornherein mit Blick auf die Sachkompetenz der Behandlungsperson abgelehnt werden kann, sondern
gerade auch (man könnte sagen: „gerade weil der Täter genau weiß, was er tut“) bei einem bestimmungsgemäßen
Einsatz besteht. Darüber hinaus gebietet auch die medizinische Indikation des Eingriffs keine unterschiedliche
Bewertung der Gefährlichkeit.

Die Zeugeneigenschaft als besonderes persönliches Merkmal
BGH, Beschl. v. 5.2.2024 – 3 StR 470/23, BeckRS 2024, 10686
Die Frage, wann ein besonderes persönliches Merkmal vorliegt, dürfte den meisten Examenskandidat*innen
im Zusammenhang mit den Mordmerkmalen bei der Abgrenzung zwischen § 28 Abs. 1 und § 28 Abs. 2 StGB
bekannt sein, die sich nach dem jeweiligen Verständnis des Verhältnisses von § 212 zu § 211 StGB bemisst.
Aber auch bei anderen Delikten spielt die Anwendbarkeit des § 28 StGB auf den Teilnehmer eine Rolle, wie
der BGH nunmehr für das Tatbestandsmerkmal des Zeugen i.S.d. §§ 153 ff. StGB konstatiert, bei dem es sich
nach seiner Auffassung nicht um ein besonderes persönliches Merkmal handelt, da es nicht täter-, sondern
vielmehr tatbezogen sei. Wer also jemanden zu einer falschen uneidlichen Aussage anstiftet, soll damit nicht in
den Genuss einer Strafmilderung i.S.d. § 28 Abs. 1 StGB kommen; denn die Zeugeneigenschaft kennzeichnet
eben nicht die Persönlichkeit des Täters, sondern stelle vielmehr ein „Element der Deliktshandlung“ (Rn. 11)
dar.

Zur Mittäterschaft des Fluchtwagenfahrers
BGH, Urt. v. 23.3.2023 – 3 StR 363/22, NStZ-RR 2023, 169
Die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme stellt einen Dauerbrenner in der Klausurbearbeitung
dar. In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatten sich von drei der vier Komplizen ihrem Tatplan
entsprechend der Wohnung des Tatopfers Zutritt verschafft, indem sich einer als Postbote ausgab, um sich
unter Anwendung von Gewalt den vom Tatopfer aus einem kürzlich erfolgten Immobilienverkauf erhaltenen
Kaufpreis zu verschaffen. Der Tatbeitrag des Angeklagten A beschränkte sich dabei auf die Übergabe der Postboten-
Jacke an einen der Komplizen und das Fahren des Fluchtfahrzeuges, wobei er während des Tatgeschehens
dort wartete und anschließend einen Beuteanteil von 50 Euro erhielt. Entgegen der Feststellungen der
Vorinstanz sah der dritte Strafsenat hierin einen mittäterschaftlichen Tatbeitrag begründet, der nach seiner Art
und des Umfangs über ein bloßes Hilfeleisten i.S.d. § 27 StGB hinaus reicht.

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Examensrelevante Rechtsprechung – Juni 2024 Wiss. Mit. Fatih-Anil Uzun

Rücktritt vom Versuch beim error in persona
BGH, Beschl. v. 17.04.2024 – 1 StR 403/23
Der Erste Senat verhält sich zum Rücktritt vom Versuch, wenn der Täter einer Personenverwechslung (error
in persona) unterlegen ist. Insofern bietet die Entscheidung die Möglichkeit, das Standardrepertoire aus dem
ersten Semester mit den Versuchslehren zu verknüpfen. Dabei nimmt der BGH Stellung zur Frage, ob nicht a
priori von einem fehlgeschlagenen Versuch auszugehen ist, wenn der Täter einer error in persona unterliegt
und dies im Nachhinein erkennt. Der Erste Senat verneint dies zutreffend und weist damit die vereinzelt anzutreffende
Ansicht in der Literatur, die im Falle des Bemerkens eines error in persona durch den Täter stets
einen Fehlschlag annimmt, zurück; insb. verkenne dieser Ansatz den Tatbegriff im Sinne des § 24 StGB.

Mittäterschaft des Beifahrers beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff des § 315b StGB
BGH, Beschl. v. 15.08.2023 – 4 StR 227/23, BeckRS 2023, 41499
Diese Entscheidung thematisiert die Mittäterschaft des Beifahrers beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff i.R.d.
§ 315b StGB, welche Examenskandidat*innen generell bekannt sein sollte. Die Besonderheit der vorliegenden
Entscheidung liegt in den Ausführungen zur Mittäterschaft des Beifahrers. Fest steht, dass ein verkehrsfeindlicher
Inneneingriff auch durch den Beifahrer eines Kraftfahrzeugs in Mittäterschaft begangen werden kann.
Insoweit muss man sich im Klaren sein, dass § 315b StGB Abs. 1 StGB – anders als § 315c StGB (welcher ein
„Führen“ des KfZ verlangt) kein eigenhändiges Delikt darstellt. Der Vierte Senat betont, dass solch einem
Verständnis auch nicht die Entscheidungen des BGH entgegenstehen, „die einen verkehrsfeindlichen Inneneingriff
dahin umschreiben, dass ein Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrsfeindlicher
Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt.“ Das bedeutet nämlich nicht, dass eine Eigenhändigkeit auch
in allen anderen Fällen zu verlangen ist. So erwähnt der BGH, dass es in der Rechtsprechung anerkannt sei,
dass auch Fußgänger den Tatbestand des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB verwirklichen können.

Der finale Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg bei der räub. Erpressung
BGH, Beschl. v. 27.02.2024 – 5 StR 19/24, BeckRS 2024, 4916
Dass der Tatbestand der räuberischen Erpressung nach § 253, 255 StGB (ebenso wie der Raub nach § 249
StGB) einen finalen Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg verlangt, sollte den Studierenden
bekannt sein. Wie genau dieser finale Zusammenhang aussehen muss (bzw. wann er gerade nicht vorzuliegen
scheint), verdeutlicht die vorliegende Entscheidung. Der Fünfte Strafsenat warnt hierbei vor einer vorschnellen
Bejahung des finalen Zusammenhangs in den Fällen der qualifizierten Drohung. Grundsätzlich gelte, dass eine
konkludente Drohung ausreicht; diese liegt auch vor, wenn der Täter dem Opfer durch sein Verhalten zu verstehen
gibt, er werde zuvor zu anderen Zwecken angewendete Gewalt nunmehr zur Erzwingung der nunmehr
erstrebten vermögensschädigenden Handlung des Opfers oder dessen Duldung der beabsichtigten Wegnahme
fortsetzen oder wiederholen. Doch genügt das bloße Ausnutzen der Angst des Opfers vor erneuter Gewaltanwendung
für sich genommen nicht für die Annahme, dass der Täter eine Drohung getätigt hat. Erforderlich ist
vielmehr, dass der Täter die Gefahr für Leib oder Leben deutlich in Aussicht stellt, sie also durch ein bestimmtes
Verhalten genügend erkennbar macht.

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Examensrelevante Rechtsprechung – Mai 2024 Wiss. HK. Alessandro Mariani

Gefährliche Körperverletzung i.S.v. § 224 I Nr. 5 StGB
BGH, Urt. v. 25.1.2024 – 3 StR 157/23, BeckRS 2024, 293
Der Angeklagte versetzte dem Geschädigten einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht, woraufhin dieser sofort bewusstlos zu Boden ging und mehrere Knochenbrüche im Gesicht erlitt. Wegen des später nicht begründeten Verdachts einer möglichen Hirnblutung wurde er zudem intensivmedizinisch versorgt. Hierdurch hat er sich wegen gefährlicher Körperverletzung gem. § 224 I Nr. 5 StGB strafbar gemacht. Eine gefährliche Körperverletzung i.S.d. § 224 I Nr. 5 StGB erfordert laut BGH nicht, dass das Opfer tatsächlich in Lebensgefahr gerät; jedoch muss die Einwirkung durch den Täter nach den Umständen generell geeignet sein, das Leben des Opfers zu gefährden. Heftige Schläge gegen den Kopf können eine das Leben gefährdende Behandlung sein, wenn sie nach der Art der Ausführung der Verletzungshandlungen im Einzelfall zu lebensgefährlichen Verletzungen führen können. Dies gilt selbst für Schläge mit der bloßen Hand in das Gesicht oder gegen den Kopf, sofern Umstände in der Tatausführung oder individuelle Besonderheiten beim Opfer vorliegen, die das Gefahrenpotenzial der Handlung im Vergleich zu einer einfachen Körperverletzung deutlich erhöhen.

Abgrenzung von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung bei strafunmündigen Haupttätern
BGH, Beschluss v. 13.9.2023 – 5 StR 200/23, NJW 2024, 604
Der Angeklagte forderte den elfjährigen Sohn der Nebenklägerin auf, diese, während sie schläft, mit einem scharfen Messer zu töten, weil sie „schlechte Sachen“ gemacht habe. Er zeigte ihm ein Video, in dem ein Mann eine andere Person erstach und erklärte, dass er selbst für eine solche Tat lange Zeit ins Gefängnis müsse, dem Kind jedoch wegen seines Alters keine Strafe drohe. Das LG Kiel verurteilte den A wegen versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft gem. §§ 211, 25 I Alt. 2, 22, 23 StGB. Das Revisionsgericht änderte den Schuldspruch dahingehend, dass A sich einer versuchten Anstiftung zum Mord gem. § 30 I 1 Alt. 1 StGB schuldig gemacht hat, denn A habe nach Auffassung des BGH schon nicht täterschaftlich handeln wollen. Insofern tritt der 5. Senat der überwiegenden Literaturauffassung, die den die Tat eines Strafunmündigen veranlassenden Hintermannes stets als mittelbaren Täter ansieht, entgegen und stellt zur Unterscheidung von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung darauf ab, ob der Veranlasser Tatherrschaft im Sinne tatsächlicher Steuerungsmacht innehat.

Teilverzicht auf das Verwertungsverbot des § 252 StPO
BGH, Beschluss v. 18.10.2023 – 1 StR 222/23, NStZ 2024, 17
Die Bedeutung strafprozessualer Zusatzfragen in der Examensklausur sollte keinesfalls unterschätzt werden, immerhin sind dies die letzten Ausführungen der Kandidat*innen und daher geeignet, das Stimmungsbild des Korrektors vor der Benotung entsprechend zu beeinflussen. Ein häufiger Prüfungsgegenstand ist die Verwertbarkeit von Zeugenaussagen. Hiermit beschäftigte sich auch der BGH in gegenständlicher Entscheidung und stellte fest, dass ein Zeuge, der trotz Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 I StPO der Verwertung früherer Aussagen durch Vernehmung der Verhörsperson gestattet, dies nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken kann. Ein bloßer Teilverzicht auf das Verwertungsverbot aus § 252 StPO führt dazu, dass sämtliche früheren Angaben unverwertbar sind. Allerdings gilt dies nicht für richterliche Vernehmungen nach Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht.

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Examensrelevante Rechtsprechung – April 2024 Wiss. Hk. und RA Benedikt Müller, LL.M. (Oslo)

Sog. „Polenböller“ als Sprengstoffe im Sinne des StGB
BGH, Urt. v. 28.6.2023 – 6 StR 118/22, NStZ 2024, 172
Die Angeklagten sprengten Fahrkartenautomaten mit sog. Polenböllern und entwendeten das sich darin befindliche Geld. Sie wurden jeweils vom Instanzgericht wegen Diebstahl und tateinheitlichem Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion (§ 308 StGB) verurteilt. Dieses (aus dem Blickwinkel der Ausbildung sehr spezielle) konkrete Gefährdungsdelikt setzt u.a. einen vom Täter verursachten Vorgang voraus, bei dem es zu einer „plötzlichen Volumenvergrößerung und dadurch zu Druckwellen mit außergewöhnlicher Beschleunigung kommt“. Eine solche Sprengwirkung könne grundsätzlich auch von Böllern ausgehen. Jedenfalls bleibe für eine Restriktion, wie sie bei in Deutschland handelsüblichen Feuerwerkskörpern diskutiert werde, dann kein Raum, wenn das verwendete Tatmittel in seiner Explosionswirkung die in Deutschland zugelassenen Stoffe erheblich übertrifft. Dies gelte ungeachtet der Verkäuflichkeit im europäischen Ausland.

Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte nur bei rechtmäßigen Maßnahmen
BGH, Beschl. v. 28.11.2023 – 6 StR 249/23, NStZ-RR 2024, 75
Beim Tatbestand des Widerstands gegen bzw. tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte ist die Rechtmäßigkeit der Dienst – bzw. Vollstreckungshandlung gem. §§ 113 Abs. 3 und 114 Abs. 3 StGB objektive Bedingung der Strafbarkeit. Rechtmäßigkeit in diesem Sinne meint (allein), dass die „vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten eingehalten“ wurden und der Hoheitsträger sein „Ermessen pflichtgemäß ausgeübt“ hat. Sind die Urteilsgründe insoweit lückenhaft, d.h. geben sie – wie im vorliegenden Fall – nicht die Art oder Dauer einer polizeilichen Fixierung wieder, lässt dies weder eine abschließende Prüfung der polizeilichen Ermächtigung noch der Einhaltung des nach Art. 104 Abs. 2 GG grundsätzlich gebotenen Richtervorbehalts und damit jener wesentlichen Förmlichkeiten (Zuständigkeit für die Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen) zu. Dann kann auch ein entsprechender Schuldspruch nach §§ 113, 114 – aber (wegen einer denkbaren Rechtfertigung nach § 32 StGB) auch nach § 223 StGB nicht bestehen bleiben.

Beweisverwertungsverbot bei fehlender Bestellung eines Pflichtverteidigers
BGH, Beschl. v. 07.12.2023 – 2 StR 49/23, NStZ-RR 2024, 124
Bei der Frage der Verwertbarkeit von Beweismitteln trotz Vorliegen von Verfahrensverstößen kommt es, wenn das Gesetz kein ausdrückliches Verwertungsverbot vorsieht (wie bspw. in § 136a Abs. 3 S. 2, 100d Abs. 2 und 257c Abs. 4 S. 3 StPO), auf eine Gesamtabwägung der widerstreitenden Interessen – Beschuldigtenrechte versus das Interesse an einer effektiven Strafverfolgung – an. Ein (unselbstständiges) Verwertungsverbot sei grundsätzlich „nur bei schwerwiegenden bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen anzunehmen, bei denen eine grundrechtliche Sicherung planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden ist.“ Davon sei im vorliegenden Fall – der Nichtbestellung eines Pflichtverteidigers im Rahmen einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, entgegen dem Ende 2019 eingeführten § 141a S. 1 StPO – nicht auszugehen. Denn, es habe sich um ein schwerwiegendes Delikt (u.a. §§ 239a, 250 StGB) gehandelt, und die Vernehmungsbeamten seien irrtümlich von der alten Rechtslage ausgegangen, wonach eine Vernehmung des unverteidigten Beschuldigten weiterhin zulässig sei, wenn dieser damit einverstanden ist.

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Examensrelevante Rechtsprechung - März 2024 Wiss. Mit. Aline Thome

Zu den Sorgfaltspflichten von Lehrpersonal
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.6.2023 – 4 WS 73/23, BeckRS 2023, 15527
Das OLG Düsseldorf erörtert in diesem Eröffnungsbeschluss Grundsätzliches zur Reichweite der schulischen Aufsichtspflicht. Der Gesundheitszustand einer 13-Jährigen, diabeteskranken Schülerin verschlechterte sich während einer Klassenfahrt rapide, woraufhin sie am letzten Tag der Reise in ein Krankenhaus eingeliefert wurde und dort an den Folgen einer Insulinunterversorgung verstarb. Wäre die Symptomatik richtig eingeordnet und damit der unverzügliche Handlungsbedarf von den Lehrerinnen erkannt worden, hätte durch eine frühzeitige medizinische Versorgung der Todeseintritt vermieden werden können. Das OLG sieht darin einen hinreichenden Tatverdacht für eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen (§§ 212, 13 I StGB) und konstatiert, dass dem Lehrpersonal im Vorfeld von Studienreisen die Pflicht obliegt, schriftliche (!) Informationen über etwaige Vorerkrankungen ihrer Schüler:innen einzuholen. Die Aufsichtspflichtverletzung (die für die Fallbearbeitung sowohl bei der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung als auch bei der Garantenstellung eine Rolle spielt) liegt dabei in der unterbliebenen Abfrage dieser Vorerkrankungen. Dem steht nicht entgegen, dass weder das Mädchen selbst noch ihre Eltern auf die Erkrankung hingewiesen hatten. Unzureichend für die Informationsbeschaffungspflicht war insoweit auch die im Vorfeld der Reise bei einer Informationsveranstaltung rein mündliche Nachfrage nach gesundheitlichen Besonderheiten. Zwischenzeitlich hat das LG Mönchengladbach die zwei Lehrerinnen wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

Versuchte Anstiftung zum Mord ohne Täter
BGH, Urt. v. 29.11.2023 – 6 StR 179/23, NJW 2024, 369
Um den Auszug seines Nachbars aus dem Nachbarhaus zu erreichen, suchte der L eine Person, die gegen Zahlung bereit war, diesen so schwer zu verletzen, dass jener dauerhaft kein selbstbestimmtes Leben mehr führen könnte oder sogar getötet würde. Hierzu kam er mit H überein, eine gemeinsame Suche nach einem geeigneten Täter anzustellen. In Abweichung zur Vorinstanz urteilte der BGH, dass der Verwirklichung einer versuchten Anstiftung nicht grundsätzlich entgegensteht, dass im Zeitpunkt der Übereinkunft die Person des präsumtiven Täters nicht feststand und unklar war, ob überhaupt eine solche gefunden und bestimmt werden kann. Vielmehr handelt es sich hierbei um vom Willen der Beteiligten losgelöste Bedingungen, denen mit Blick auf den Zweck der zeitlichen Vorverlagerung der Strafbarkeit nach § 30 II StGB keine Bedeutung zukommt. Das Minus bei der Bestimmung der Person des präsumtiven Täters lässt sich durch das Feststehen der anderen Tatbegebenheiten zum Zeitpunkt der Übereinkunft wie Tatopfer, Begehungsweise, Tatmotiv und angedachtem Tatzeitraum ausgleichen.

Garantenstellung über von sich selbst ausgehende Gefahren
BGH, Urt. v. 22.11.2023 – 2 StR 152/23, BeckRS 2023, 39418
Der Beschuldigte B litt seit mehreren Jahren an einer paranoiden Schizophrenie mit Stimmenhören und befand sich seit jeher in medikamentöser Behandlung. Als B die Psychopharmaka eigenständig absetzte, entwickelte er dahingehende Wahnvorstellungen, dass das Tatopfer U seine Familie töten und sein Haus anzünden würde, wenn er ihm nicht zuvorkäme. Unter dem Eindruck befehlender Stimmen versetzte B ihm daher in Tötungsabsicht 33 Messerstiche, woran U letztlich verstarb. Der Zweite Strafsenat wirft bei der rechtlichen Bewertung die interessante Frage auf, ob und ggf. in welchem Umfang einen an einer überdauernden Psychose Erkrankten eine Garantenpflicht trifft, von ihm ausgehende Gefahren für Dritte abzuwenden. Vorausgesetzt wird jedenfalls ein berücksichtigungsfähiges Vorverschulden, welches hier in dem Unterlassen der Medikamenteneinnahme und damit in der Herbeiführung eines Zustands aufgehobener Schuldfähigkeit liegen könnte. Vorliegend war dagegen das Verhalten des B insgesamt als Ausdruck einer psychischen Störung zu verstehen, sodass es an einer trennbaren Vorverlagerung der Schuld fehlte. Aus dem gleichen Grund scheide auch ein Rückgriff auf die Grundsätze der actio libera in causa aus.

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Examensrelevante Rechtsprechung - Februar 2024 Wiss. Mit. Fatih-Anil Uzun

Der Messereinsatz und die Erforderlichkeit im Rahmen der Notwehr
BGH, Beschl. v. 31.05.2023 – 3 StR 119/23, BeckRS 2023, 15389
Bei Klausuren mit dem Schwerpunkt einer Notwehrprüfung steht praktisch die Erforderlichkeit im Mittelpunkt
der rechtlichen Bewertung, wenn Schusswaffen oder Messer im Einsatz waren. Das „dreistufige Vorgehen“ in
diesem Zusammenhang sollte Studierenden bekannt sein: Der Einsatz von Schusswaffen und Messern ist gegenüber
unbewaffneten Tätern „grundsätzlich“ vorher anzudrohen (Stichwort: Warnruf, Warnschuss, tatsächlicher
Einsatz, soweit möglich auf nicht lebensbedrohliche Körperregionen). Dabei ist aber zu beachten, dass
der Angegriffene eine Schwächung seiner Verteidigungssituation grundsätzlich nicht riskieren muss. Hier setzt
die Entscheidung des BGH an, bei dem entschieden wurde, wann eine Drohung unter den konkreten Umständen
eine so hohe Erfolgsaussicht hat, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit
verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. In der Klausurbearbeitung
bleibt es dabei, dass von einer erforderlichen Notwehrhandlung ausgegangen werden kann, wenn sich
dem Sachverhalt nicht entnehmen lässt, dass ein Warnschuss o.Ä. möglich (und v.a. genauso effektiv) wie ein
unmittelbarer Schuss auf den Angreifer ist.

Vermögensschaden beim Anstellungsbetrug
BGH, Urt. v. 01.06.2023 – 4 StR 225/22 m Anm Jahn JuS 2023, 981
In dieser Entscheidung beschäftigt sich der BGH mit der Frage des Vermögensschadens iSd § 263 I StGB beim
Anstellungsbetrug. Gemeint sind die Fälle, in denen der Täter über die für die Einstellung erheblichen Tatsachen
täuscht und sich irrtumsbedingt Lohn oder Gehalt auszahlen lässt. In dem vorliegenden Fall wurde konstatiert,
dass beim Anstellungsbetrug als Unterfall des Eingehungsbetrugs die vertraglichen Pflichten bei Abschluss
– nicht aber die künftig erbrachten Leistungen im Rahmen der Vertragserfüllung – miteinander zu
vergleichen sind. Das bedeutet, dass der Getäuschte schon dann geschädigt ist, wenn sich bei Betrachtung ex
ante zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ein Negativsaldo zu seinem Nachteil ergibt.

Der Öffentlichkeitsgrundsatz des § 338 Nr. 6 StPO
BGH, Beschl. v. 21.06.2023 – 5 StR 73/23, NStZ 2023, 703
Das Strafverfahrensrecht darf in der Examensvorbereitung schon deswegen nicht vernachlässigt werden, da in
der strafrechtlichen Examensklausur häufig ein strafprozessualer Fragenteil vorkommt. Auskennen sollte man
sich auch mit der Revision als Rechtsmittel, und hierbei v.a. mit dem Katalog der absoluten Revisionsgründe
in § 338 StPO. Im gegenständlichen Beschluss hat der BGH zum Öffentlichkeitsgrundsatz des § 338 Nr. 6
StPO Stellung nehmen müssen, namentlich i.R.e. Sachverhaltskonstellation, bei der die Öffentlichkeit nicht
durch eine richterliche Anordnung, sondern durch ein tatsächliches Hindernis beschränkt wurde (konkret waren
die Eingangstüren zum Gerichtsgebäude infolge eines Alarms im Gerichtsgebäude verschlossen; der ein
oder andere mag an dieser Stelle an die Erzählung von Schirachs „Verfahren als Strafe“ in seinem Buch „Die
Würde ist antastbar“ denken). In einem solchen Fall könne eine Rüge der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes
nur dann durchdringen, wenn dem Gericht oder dem Vorsitzenden die faktische Beschränkung bekannt
war oder sie diese bei ordnungsgemäßer Sorgfalt hätten erkennen und beseitigen können.

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Examensrelevante Rechtsprechung - Januar 2024 Wiss. Mit. Alessandro Mariani

Dreiecksbetrug
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.8.2023 – 1 ORs 35 Ss 322/23, NJW 2023, 2894 mAnm Mitsch
Die Abgrenzung zwischen Trickdiebstahl und Dreiecksbetrug gehört zweifelsohne zu den Must-Knows im Strafrecht BT und stellt nicht nur Studierende und Examenskandidat*innen, sondern, wie die gegenständliche Entscheidung zeigt, auch die Fachgerichte vor Herausforderungen. Der Angeklagte hatte unter Vortäuschung seiner Eigentümerschaft Baumaterialien des Geschädigten, die bei einem Dritten verwahrt wurden, abgeholt und für eigene Zwecke verbraucht. Das OLG Karlsruhe wertet das Verhalten des Angeklagten in der Revision, anders als die Vorinstanzen, die eine Strafbarkeit wegen Diebstahls bzw. Unterschlagung angenommen hatten, zutreffend als Dreiecksbetrug gem. § 263 I StGB. Duldet der eine Sache für den Berechtigten Verwahrende aufgrund einer Täuschung über die Berechtigung irrtumsbedingt die Wegnahme der Sache durch den Nichtberechtigten, sei in dieser Handlung eine dem Berechtigten nach den Grundsätzen der herrschenden „Lagertheorie” zuzurechnende Vermögensverfügung zu sehen, die den Verlust des mittelbaren Besitzes des Berechtigten zur Folge hat. Der Getäuschte steht dann im Lager des Geschädigten, wenn ein rechtliches oder auch nur faktisches Näheverhältnis zum Drittvermögen besteht. Ein solches Näheverhältnis besteht, wenn der Getäuschte im Einvernehmen mit dem Geschädigten eine Schutz- oder Prüfungsfunktion wahrnimmt. Auf die konkrete Kenntnis der Person des Vermögensinhabers komme es dabei nicht an.

Rücktritt vom unbeendeten Versuch der gefährlichen Körperverletzung
BGH, Beschl. v. 16.05.2023 – 3 StR 137/23, BeckRS 2023, 17376
Der Kassenbereich eines Supermarktes war schon Schauplatz unzähliger Examensklausuren. So auch in nachfolgender Entscheidung, in welcher der BGH sich mit besonders klausurrelevanten Fragen des Rücktritts vom Versuch auseinandersetzen musste. Der Angeklagte wollte den Supermarkt verlassen, ohne die Waren zu bezahlen, welche er vorher in seinem Rucksack verstaut hatte. Nachdem er vom Ladendetektiv angesprochen wurde, griff er diesen mit einem schwungvollen Messerstich an, um im Besitz der Beute zu bleiben. Der Ladendetektiv konnte ausweichen und der Angeklagte fliehen. Indem der bei einem Diebstahl auf frischer Tat betroffene Angeklagte mittels eines Messerangriffs Gewalt verübte, um sich im Besitz der gestohlenen Ware zu erhalten, beging er einen besonders schweren räuberischen Diebstahl (§§ 252, 250 II Nr. 1 Var. 2 StGB). Fraglich war jedoch, ob der Angeklagte vom tateinheitlichen Versuch einer gefährlichen Körperverletzung (§§ 223 I, 224 I Nr. 2 Var. 2, II, 22, 23 I, 52 I StGB) strafbefreiend zurückgetreten war. Die Annahme der Vorinstanz, der Versuch der Körperverletzung sei fehlgeschlagen, jedenfalls aber der Rücktritt hiervon nicht freiwillig gewesen, erachtet der BGH zutreffend als rechtsfehlerhaft. Die mit dem Erreichen eines außertatbestandlichen Ziels verbundene Nutzlosigkeit der Tatfortsetzung führe weder zur Annahme eines fehlgeschlagenen Versuchs, noch werde dadurch die freiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführung ausgeschlossen. Der Angeklagte hätte, wenn auch unter Aufgabe seines eigentlichen Ziels, den Detektiv weiter angreifen können. Auf Grundlage der herrschenden psychologischen Betrachtungsweise handle es sich um eine autonome Entscheidung, der ursprünglich beabsichtigten Flucht Vorrang zu geben.

Garantenstellung aus Ingerenz und entschuldigender Notstand 
BGH, Urt. v. 2.8.2023 – 5 StR 80/23, BeckRS 2023, 31238
Angeklagter und Geschädigter lebten gemeinsam mit den beiden Mitangeklagten in einer Arbeiterunterkunft. Einer der Mitangeklagten verletzte den Geschädigten durch Gewalteinwirkungen gegen den Kopf und forderte den Angeklagten unter Androhung von Gewalt auf, den Geschädigten mit dem Knie zu fixieren. Der Angeklagte hatte die Wohnung danach verlassen, während die Mitangeklagten weiter gewaltsam gegen den Geschädigten vorgingen und diesen anschließend zurückließen. Nach seiner Rückkehr erkannte der Angeklagte die lebensbedrohliche Situation des Geschädigten, verließ die Wohnung jedoch abermals, um Alkohol zu kaufen. Das Fixieren des Geschädigten begründet, unabhängig vom Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen, keine Strafbarkeit wegen §§ 223, 239 oder 240 StGB, da der Angeklagte seinerseits mit Misshandlungen bedroht wurde und sich folglich nach § 35 I StGB in einem entschuldigenden Notstand befand. Der BGH hatte zu entscheiden, ob der Angeklagte sich wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I, 22, 23 I StGB strafbar gemacht hat. Zentrale Frage ist insoweit, ob der Tatentschluss des Angeklagten auch eine Garantenstellung umfasste. Das für eine Garantenstellung aus Ingerenz erforderliche pflichtwidrige Vorverhalten könnte in der Fixierung des Geschädigten liegen. Die Begründung einer Garantenstellung aus Ingerenz setzt, wie der BGH richtigerweise feststellt, kein schuldhaftes, sondern lediglich ein pflichtwidriges Vorverhalten voraus. Ein nach § 35 I StGB entschuldigtes Verhalten bleibt rechts- und mithin objektiv pflichtwidrig und kann daher eine Garantenstellung aus Ingerenz begründen.

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Examensrelevante Rechtsprechung – Dezember 2023 Wiss. Hk und RA Benedikt Müller

Zum Erfordernis und den Anforderungen an eine stabile Bemächtigungslage i.S.d. § 239a StGB
BGH, Beschl. v. 10.5.2023 – 4 StR 515/22, NStZ 2023, 677
Wiss. Hk und RA Benedikt Müller, LL.M. (Oslo) 
Die Angeklagten fesselten das Opfer, um es dazu zu bewegen, ihnen das Versteck eines Tresorschlüssels zu nennen. Unter dem Eindruck der Fesselung folgte das Opfer dieser Aufforderung, allerdings ließ sich der Tresor mit dem Schlüssel nicht öffnen und die beiden Täter flüchteten. Nach Ansicht des BGH tragen diese Feststellungen nicht die Verurteilung wegen versuchten erpresserischen Menschenraubs. Erforderlich sei im Zwei-Personen-Verhältnis (aufgrund der strafrahmenindizierten Abgrenzung u.a. zu §§ 253, 255 StGB) das Vorliegen einer stabilen Bemächtigungslage. Diese setze voraus, dass der Täter die physische Herrschaftsgewalt über das Tatopfer gewonnen hat, was der Täter wiederum zu einer Erpressung ausnutzen will, wobei der Bemächtigungslage im Hinblick auf die erstrebte Erpressung eine eigenständige Bedeutung zukommen muss. Diese erforderliche Eigenständigkeit verneint der BGH, wenn Bemächtigungs- und Nötigungsmittel zusammenfallen. Denn die Fesselung sollte vorliegend der Ermöglichung der Wegnahme, mithin als Nötigungsmittel des Raubes dienen und habe keine darüberhinausgehende Bedeutung. 

Zum fehlgeschlagenen Versuch und dem Rücktrittshorizont 
BGH, Beschl. v. 31.05.2023 – 3 StR 32/23, NStZ 2023, 673 
„Beim Versuch immer an den Rücktritt denken!“ – An diesen Studierenden eingebläuten Merksatz wurde nun auch das LG Düsseldorf erinnert: Der Angeklagte stach nacheinander zwei Personen in Tötungsabsicht mit einem Messer in die Brust. Beiden gelang es – ohne weitere Einwirkung durch den Täter –  den Tatort zu verlassen. Das Urteil u.a. wegen versuchten Totschlags hat der BGH auf die Sachrüge des Angeklagten aufgehoben. Die Feststellungen hätten das Instanzgericht nämlich veranlassen müssen, über einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch gem. § 24 Abs. 1 S. 1 StGB nachzudenken. Dieser sei möglich, wenn der Versuch nicht fehlgeschlagen wäre und vorliegend denkbar, wenn von einem unbeendeter Versuch ausgegangen werden könnte. Für beides komme es entscheidend auf das Vorstellungsbild des Angeklagten nach den jeweils letzten Ausführungshandlungen an. Feststellungen hierzu habe das LG nicht getroffen, was zur Aufhebung des Urteils zwinge. 

Ne bis in idem: Entscheidung des BVerfG zur Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten
BVerfG, Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, BeckRS 2023, 29790
Mit Pauken und Trompeten hat das BVerfG das „Gesetz zur Wiederherstellung materieller Gerechtigkeit“ für verfassungswidrig und nichtig erklärt, in welchem nach § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen ermöglicht werden sollte, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nun wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt werden kann. Das BVerfG belegt den Verfassungsverstoß mit einer doppelten Argumentation: Zum einen liege ein Verstoß gegen das „abwägungsfeste“ Mehrfachverfolgungsverbot (ne bis in idem) des Art. 103 Abs. 3 GG vor; dieses normiere eine „absolute Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit.“ Zum anderen stelle die Norm, weil sie auch auf bereits vergangene rechtskräftig abgeschlossene Verfahren wirken sollte, eine nicht zu rechtfertigende Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar und verstoße damit gegen das Rückwirkungsverbot. 

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Examensrelevante Rechtsprechung – November 2023 Wiss. Mit. Aline Thome 

Heimtücke erfordert kein heimliches Vorgehen
BGH, Urt. v. 24.5.2023 – 2 StR 320/22, NStZ 2023, 545
Die sorgfältige Prüfung von Mordmerkmalen wird nicht nur in der Examensklausur erwartet, sondern spielt auch in der Praxis eine erhebliche Rolle. Vorliegend fuhr der Angekl. im Auto gemeinsam mit dem Tatopfer zu einer abgelegenen Stelle, wo er es schließlich mit Kopfschüssen aus nächster Nähe tötete. Der BGH hatte darüber zu entscheiden, ob der Täter dabei das Mordmerkmal der Heimtücke verwirklichte. Bei einem zeitlich gestreckten Geschehensablauf kommt es für die tatrichterliche Prüfung der Arglosigkeit maßgeblich auf den Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriff an. Der BGH hob die Entscheidung der Vorinstanz auf, da ein Angriff nicht erst – wie das LG befunden hatte – mit der eigentlichen Tötungshandlung, also den Schüssen, beginnt, sondern auch die unmittelbar davor liegende Phase umfasst. Für die Annahme der Arglosigkeit war auch unschädlich, dass das Tatopfer während der Autofahrt gemerkt hat, dass der Angekl. ihr etwas antun könnte, ihm mithin offen feindselig gegenübertrat; vielmehr kommt es darauf an, ob die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff so kurz ist, dass dem Opfer keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen.  

Neues von der "Letzten Generation": zur Strafbarkeit von "Klimaklebern"
KG, Beschl. v. 16.08.2023 - 3 QRs 46/23 - 161 Ss 61/23, NJW 2023, 2792
Zu dem medienwirksamen Phänomen klimaaktivistischer Sitzblockaden, das auch unter dem Begriff der „Klimakleber“ publik wurde, gibt es bislang nur vereinzelt obergerichtliche Rechtsprechung. Es handelt sich daher um ein für die strafrechtliche Examensklausur höchst brisantes Themengebiet, das den Prüflingen einen argumentativen Spielraum bei der Bearbeitung einräumt. Das KG verhält sich in diesem Fall darüber, ob das Festkleben mit Sekundenkleber auf der Fahrbahn die Voraussetzungen einer Nötigung und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte erfüllt. Einem Widerstandleisten im Rahmen des § 113 Abs. 1 StGB stehe nicht entgegen, wenn der Täter die Gewaltanwendung (Festkleben auf der Fahrbahn) bereits vor Beginn der Vollstreckungshandlung (Entfernen der Demonstranten) vornimmt; es genügt insoweit das Fortwirken der Gewalt bis zum Beginn der Vollstreckungshandlung. Dagegen hängt die Strafbarkeit wegen Nötigung iSd. § 240 Abs. 1 StGB im Wesentlichen von der einfallbezogenen Auslegung der Verwerflichkeitsklausel ab. 

Gemeinschaftliche Körperverletzung durch Unterlassen?
BGH, Beschl. v. 17.1.23 – 2 StR 459/21, BeckRS 2023, 15360
Vernachlässigen Eltern über Monate hinweg ihren Säugling durch mangelhafte Nahrungszufuhr bis zu einem lebensbedrohlichen Zustand, wird also eine mittäterschaftliche Körperverletzung durch Unterlassen begangen, begründet dies nach Ansicht des Zweiten Strafsenates keine Qualifikation nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB. Begründet wird dies mit dem Normzweck, da einer gemeinschaftlichen Begehung bereits nach ihrem Wortsinn kein gemeinschaftliches Unterlassen immanent sei. Bemerkenswert an der Entscheidung ist, dass der Sechste Strafsenat wenige Monate später in einem ähnlich gelagerten Fall (BGH, Urt. v. 17.5.23 – 6 StR 275/22) die gegenteilige Auffassung vertrat: der Qualifikationstatbestand könne gerade auch durch Unterlassen verwirklicht werden, da die erforderliche Gefährlichkeit regelmäßig gegeben ist, wenn sich die Garanten zu einem Nichtstun verabreden und mindestens zwei von ihnen zeitweilig am Tatort präsent sind. Letztlich bleibt die Entwicklung dieser Differenzen innerhalb höchstrichterlicher Rechtsprechung abzuwarten; eine Vorlage an den Großen Strafsenat gem. § 132 GVG blieb jedenfalls aus. 

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Examensrelevante Rechtsprechung - Oktober 2023 Wiss. Mit. Fatih-Anil Uzun

Zur Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung
BGH, Urt. v. 12.08.2021 – 3 StR 474/20
Die Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung gehört zum Examens-Standartrepertoire. Die vorliegende Entscheidung zeigt dabei, dass neben der klassischen Abgrenzung auch die Subsumtion unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale Schwierigkeiten bereiten kann. Dabei ging es im Konkreten um die Frage, ob der Hinweis des Opfers zum Auffindeort des Handys eine Vermögensverfügung i.S.d § 253, 255 StGB darstellt (dies war ein entscheidender Umstand, denn für einen Raub fehlte am Merkmal der Absicht rechtswidriger „Zueignung“). Nach dem der BGH ausgeführt hat, dass die Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung nach st. Rspr. des BGH nach dem äußeren Erscheinungsbild erfolgt, konstatiert er, dass der Hinweis des Opfers zum Auffindeort keine Vermögensverfügung i.S.d. §§ 253, 255 StGB darstellt, sondern lediglich die Möglichkeit zum Gewahrsamsbruch eröffnet.

Zum Mordmerkmal der Heimtücke
BGH, Beschl. v. 12.07.2023 – 6 StR 231/23
Es sollte bekannt sein, dass Arglosigkeit im Sinne des Mordmerkmals der Heimtücke die Fähigkeit voraussetzt, Argwohn zu empfinden. Ist ein Kind dazu aufgrund seines Alters noch nicht in der Lage, so ist auf die Arg- und Wehrlosigkeit eines schutzbereiten Dritten abzustellen. Ob der Vater eines drei Monate alten Kindes, der sich nicht im gleichen Gebäude, sondern 360 Meter entfernt im Außenbereich des Geländes steht, noch ein schutzbereiter Dritter ist, musste im vorliegenden Fall entschieden werden. Das Landgericht hat die Tat als Mord gewürdigt, der BGH sah dies anders. Um den Schutz wirksam erbringen zu können, muss der schutzbereite Dritte eine „gewisse räumliche Nähe" zu dem Geschützten haben. Daran soll es fehlen, wenn aufgrund der Entfernung zum Tatort der tödliche Angriff schon gar nicht wahrgenommen werden kann und eine Gegenwehr auch deshalb zu spät käme, weil die räumliche Distanz erst überwunden werden muss.

Täterschaft und Teilnahme beim sog. „Polizistentrick"
BGH, Urt. v. 01.06.2022 – 1 StR 421/21
Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme wird schon in den Anfangssemestern gelehrt und gehört zu den absoluten Klassikern im Examen. Wenn einmal die Abgrenzungsregeln beherrscht werden, fällt die Subsumtion, bei hinreichenden Sachverhaltsangaben, üblicherweise leichter. In der vorliegenden Entscheidung erläutert das Gericht lehrbuchartig die relevanten Indizien für eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme. Maßgebliche Kriterien sind dabei der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft. Sodann wird die Beitragsqualität des Abholers beim sog. „Polizistentrick" im konkreten Fall unter die maßgeblichen Kriterien subsumiert. Lesenswert ist die Entscheidung nicht nur wegen der instruktiven Ausführungen des Senats, sondern auch im Hinblick auf das Ergebnis, das man zumindest auf den ersten Blick vielleicht so nicht erwarten würde.

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Examensrelevante Rechtsprechung - September 2023 Wiss. Hk und RA Benedikt M. Müller, LL.M. (Oslo)

Zur Beweiswürdigung beim sog. Zeugen vom Hörensagen
BGH, Urt. v. 29.3.2023 – 2 StR 306/22 = NStZ 2023, 287
Der BGH hat die vorliegende, den Angeklagten freisprechende Entscheidung deshalb aufgehoben, weil das Landgericht die Beweiswürdigung nur lückenhaft durchgeführt hat. Es stelle danach einen revisibelen Mangel in der instanzgerichtlichen Beweiswürdigung dar, wenn die Möglichkeit der Bestätigung von Tatvorwürfen durch – als Beweismittel vorhandene – Zeugen vom Hörensagen (pauschal) für „schlechterdings nicht möglich“ gehalten und sie damit nicht bei der gerichtlichen Überzeugungsbildung berücksichtigt würden. Zwar wird insofern betont, dass Zeugen die über die zu beweisende Tatsache aus eigener Wahrnehmung berichten können vorrangig bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen seien (sog. Unmittelbarkeitsgrundsatz, § 250 S. 1 StPO). Allerdings könne und müsse (§ 244 Abs. 2 StPO), sind keine Zeugen vorhanden, aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht erreichbar oder ändern sie in der Hauptverhandlung ihr Aussageverhalten, durchaus auf den Zeugen vom Hörensagen zurückgegriffen werden. Dabei sei, weil dieser nicht über eigenes Erleben (bzw. nur über das was er in eigener Wahrnehmung über Umstände “gehört hat“) berichten kann, der geringere Beweiswert seiner Aussage zu berücksichtigen. Der Beweiswürdigung sei er indes zugänglich und seine Aussage könne durchaus zur Grundlage einer Verurteilung gemacht werden.

Zu Verfolgungsfällen im Rahmen des § 252 StGB
BGH, Beschl. v. 14.03.2023 – 4 StR 451/22 = NStZ 2023, 550
Das Tatbestandsmerkmal „auf frischer Tat betroffen“ des § 252 setzt nicht voraus, dass das Nötigungsmittel gegen die Person, die den Täter in dieser Weise „betroffen“ hat, eingesetzt wird. Vielmehr ist entscheidend, dass der Dieb in räumlich und zeitlich engem Zusammenhang mit der Vortat, d.h. in der Nähe zum Tatort und alsbald nach der Tatausführung handelt. Ein derartiger Bezug zur Vortat bestehe nach der vorliegenden Entscheidung auch dann noch, wenn ein Fall der sogenannten Nacheile vorliegt. Hiervon sei auszugehen, wenn der Täter im „unmittelbarem Anschluss an das Betreffen auf frischer Tat verfolgt wird und diese Verfolgung bis zum Einsatz des Nötigungsmittels ohne Zäsur fortgesetzt wird.“ Nicht ausreichend sei daher, wenn zwar zunächst ein Betroffensein am Tatort vorliegt, die sich anschließende Verfolgung aber zwischenzeitlich abgebrochen werden musste und zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt wurde.

Zur Abgrenzung zwischen Tankbetrug und -diebstahl?
BGH, Beschl. v. 08.11.2022 – 5 StR 318/22 = NStZ-RR 2023, 277
Für die, insbesondere im Zusammenhang mit Selbstbedienungstankstellen, immergrüne Abgrenzung zwischen (Trick-)Diebstahl und (Sach-)Betrug hat der BGH in vorliegender Entscheidung den Schuldspruch des landgerichtlichen Urteils insoweit korrigiert, als dass er einen Tankbetrug – und keinen Diebstahl – für gegeben hält: Wenn ein Täter von Anfang an beabsichtigt, dass an einer, mit menschlichem Personal besetzten Selbstbedienungstankstelle getankte Benzin an sich zu bringen, ohne den Kaufpreis zu bezahlen läge ein Betrug vor. Wird ein solcher Tankvorgang tatsächlich nicht vom Tankstellenpersonal beobachtet, sei der Täter wegen versuchten Betruges zu verurteilen.

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Examensrelevante Rechtsprechung –  August 2023 Wiss. Mit. und RA Dr. Kai-Daniel Weil

Zum ETBI (BGH, Beschl. v. 25.05.2022 – 4 StR 36/22, NStZ 2023, 407) 
Die aktuelle Entscheidung des BGH gibt Anlass dazu sich erneut mit der klassischen Erstsemester-Thematik des sog. ETBI zu befassen – gewissermaßen alter Wein in neuen Schläuchen: Neben dem Umstand, dass der 4. Strafsenat die Ansicht bekräftigt, dass ein ETBI analog § 16 Abs. 1 S. 1 StGB den Vorsatz ausschließe, wird klargestellt, dass ein solcher Irrtum auch einen krankhaften Ursprung haben könne. Anders formuliert: Das der Irrtum auf eine paranoide Schizophrenie des Angeklagten zurückgeführt werden könne, schließe dessen Annahme dem Grunde nach nicht aus. Im Übrigen enthält der Beschluss betreffend eines anderen Schuldspruchs Ausführungen zu § 33 StGB, was die Relevanz dieser Entscheidung als Klausurvorlage untermauert. 

Zum Schuh als gefährliches Werkzeug (BGH, Urt. v. 25.01.2023 – 6 StR 298/22, NStZ 2023, 410) 
Der Angeklagte (im Folgenden: A) schlug nach den Urteilsfeststellungen den Nebenkläger (im Folgenden: N) nieder. Als N gerade dabei war, sich wieder aufzurichten und sich in der Hocke befand, trat ihm A schwungvoll und mit zwei Schritten Anlauf gezielt mit seinem mit einem Turnschuh mit weicher Sohle beschuhten rechten Fuß wuchtig ins Gesicht. N fiel infolgedessen zu Boden und blieb liegen, wobei er kurzzeitig sein Bewusstsein verlor. Die ausschließliche Verurteilung des A auf Basis der §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB veranlasste den BGH zu folgender Klarstellung in Bezug auf § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB: „[...] Ob der Schuh am Fuß des Täters als ein gefährliches Werkzeug iSv § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB anzusehen ist, [kommt es; Anm. d. Verf.] auf die Umstände des Einzelfalls an, unter anderem auf die Beschaffenheit des Schuhs sowie darauf, mit welcher Heftigkeit und gegen welchen Körperteil getreten wurde. Ein Straßenschuh von üblicher Beschaffenheit stellt regelmäßig ein gefährliches Werkzeug dar, wenn damit einem Menschen gegen den Kopf getreten wird. Das gilt jedenfalls für Tritte in das Gesicht des Opfers. Entsprechendes ist anzunehmen, wenn der Täter Turnschuhe der heute üblichen Art trägt [...].“ 

Zum Beinaheunfall (BGH, Beschl. v. 22.11.2022 – 4 StR 112/22, NStZ 2023, 415) 
§ 315 c Abs. 1 StGB erfordert eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert. Ein solcher Gefährdungserfolg ist anzunehmen, wenn die Tathandlung „in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen [...].“ Mit anderen Worten: Das abgeschwächte Erfolgsunrecht im Kontext konkreter Gefährdungsdelikte betreffend hinreichend klarer Darlegungen respektive entsprechende Argumentation mit den Sachverhaltsangaben einer Klausursituation. 

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Examensrelevante Rechtsprechung – Juli 2023 Wiss. Hk. Aline Thome

Labello-Fall 2.0?! Luftpumpe als taugliches Tatmittel beim schweren Raub (BGH, Beschl. v. 28.3.2023 – 4 StR 61/23, BeckRS 2023, 8071)
A wollte die Handtasche der B wegnehmen, um sich deren Wertgegenstände und Bargeld zu verschaffen. Zur Umsetzung seines Tatplanes entschloss sich A, die B mittels einer Luftpumpe zu bedrohen, die optisch einer Art Gewehr bzw. Langwaffe ähneln sollte, sodass diese in der Annahme, es handele sich um eine Schusswaffe, keinen Widerstand leisten und seinen Forderungen nachkommen würde. Der 4. Strafsenat war mit der Frage konfrontiert, ob A den Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 1 b StGB durch den Einsatz einer sog. Scheinwaffe verwirklicht habe oder ob im Rahmen einer restriktiven Auslegung die Vortäuschung der Verletzungstauglichkeit überwiegt. Im Gegensatz zu dem bekannten Labello-Beispiel (BGH, Beschl. v. 20.6.1996 – 4 StR 147/96) ist eine Luftpumpe für einen objektiven Beobachter nicht schon nach dem äußeren Erschei- nungsbild als offensichtlich ungefährlich einzustufen, da insb. durch den Einsatz als Schlagwerkzeug erheblich auf den Körper eines anderen eingewirkt werden könnte.

Zur rechtsstaatswidrigen Tatprovokation (BGH, Urt. v. 16.12.2021 − 1 StR 197/21, NStZ 2023, 243)
Die Thematik der Tatprovokation erscheint prüfungsrechtlich gleich in doppelter Hinsicht brisant: zum einen auf materiell-rechtlicher Ebene bezüglich der Strafbarkeit des sog. agent provocateurs wegen Anstiftung zu einer Tat; zum anderen wegen seiner prozessualen Relevanz als potentielles Verfahrenshindernis. In der vorliegenden Entscheidung präzisiert der BGH die Grundsätze zu der Grenze rechtsstaatswidriger Tatprovokation: eine Verletzung des Gebots des fairen Verfahrens gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK kommt mitunter dann in Betracht, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatge- neigte Person in einer dem Staat zurechenbaren Weise (wie etwa durch einen Amtsträger oder einer von diesem geführten Vertrauensperson) zu einer Straftat verleitet wird und im Anschluss einem Strafverfahren ausgesetzt wird.
 

Alles Käse: Strafrechtliche Grenzen des Eigentumsschutzes (OLG Zweibrücken, Urt. v. 11.7.2022 − 1 OLG 2 Ss 7/22, NStZ 2023, 293)
Das OLG führt in Anlehnung an die zum sog. „Containern“ ergangenen Rspr. des BVerfG (Beschl. v. 5.8.2020 – 2 BvR 1985/19, 2 BvR 1986/19) aus, dass allein die Wertlosigkeit einer Sache Dritten nicht das Recht zur Wegnahme gewährt. Dies gilt im konkreten Fall auch für das leicht verderbliche Transportgut (22.000 kg Käse!) eines verunfallten Lastkraftwagens. § 242 StGB schützt den Eigentümer vielmehr vor jeglichen unberechtigten Eingriffen in sein Eigentumsrecht, also gerade auch dessen faktische Ausübungsmöglichkeit und die nach § 903 BGB bestehende Möglichkeit, mit der Sache nach Belieben zu verfahren und jeden Dritten vom Umgang mit der Sache auszuschließen. Auf einen objektiv messbaren Substanzwert oder auf eine wirtschaftliche Interessenverletzung kommt es hingegen nicht an und ein zum Ausschluss des Tatvorsatzes führendes mutmaßliches Einverständnis des Gewahrsamsinhabers kann nicht ausschließlich mit einem fehlenden wirtschaftlichen Interesse an der Sache begründet werden.

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Examensrelevante Rechtsprechung – Juni 2023 Wiss. Mit. Fatih-Anil Uzun

Freiwilligkeit beim Rücktritt (innere Hemmung) (BGH, Beschl. v. 14.02.2023 – 4 StR 442/22)

Wieder einmal hebt der BGH ein Urteil auf, weil der Senat die instanzgerichtlichen Ausführungen zum Rücktritt vom Versuch nicht für ausreichend hält. In dem zu entscheidenden Fall ging es um einen Angeklagten (A), der mit einer Machete und bedingtem Tötungsvorsatz mehrfach auf die Geschädigte (G) einstach. Das laute Anflehen der G hinderte den A zunächst nicht daran, weiterzumachen. Erst als die G den A auf ihren Sohn aufmerksam machte, wurde der A aus seinem affektiven Erregungszustand herausgerissen. Aufgrund psychischer Hemmungen sah sich A nicht mehr in der Lage, auf die Geschädigte einzustechen, sodass er von ihr abließ. Die entscheidende Frage hierbei – mit der man sich auch in der Klausur auseinanderzusetzen hat – ist, ob A gem. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB freiwilligvom versuchten Totschlag (§§ 212 I, 22 StGB) zurückgetreten ist. Dabei kann auch eine durch innere Vorgänge bewirkte Zwangslage einem heteronomen Rücktrittsentschluss entgegenstehen. Allerdings ist es widersprüchlich, eine Freiwilligkeit zu verneinen, wenn zugleich festgestellt ist, dass der Entschluss des Täters gerade nach  Beendigung des affektiven Gemütszustands gefasst wurde.

Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (BGH, Beschl. v. 09.11.2022 – 4 StR 272/22)

Der Angeklagte (A) flüchtete mit seinem Fahrzeug vor einer Polizeikontrolle. Während seiner Flucht geriet der A auf eine Straße, die sich zu einem schmalen Feldweg verengte. Am Ende des Weges musste er anhalten, weil Betonsteine die Weiterfahrt verhinderten. Als einer der Polizeibeamten die Beifahrertür des Dienstfahrzeugs öffnete, um auszusteigen und auf A zuzugehen, setzte der A seinen Pkw zurück, um erneut der Kontrolle zu entgehen. Dabei touchierte der A mit seinem Fahrzeug die geöffnete Beifahrertür. Dem Polizeibeamten gelang es gerade noch rechtzeitig, seinen Fuß wieder zurück ins Fahrzeug zu bringen, bevor die Beifahrertür durch den Anstoß zuschlug. Der BGH bestätigt die Auffassung der Vorinstanz, wonach die Widerstandshandlung nicht unmittelbar gegen den Beamten gerichtet sein brauche. Es genüge vielmehr auch eine nur mittelbar gegen die Person des Beamten, unmittelbar aber gegen Sachen gerichtete Einwirkung, wenn sie nur von dem Beamten körperlich empfunden wird. Daher sei die Verwirklichung des  objektiven Tatbestandes des § 113 Abs. 1 StGB zu bejahen.
 

Betrug durch AGG-Hopping (BGH, Beschl. v. 04.05.2022 – 1 StR 3/21 m Anm Kudlich/Oğlakcıoğlu JR 2023, 292)

In diesem Beschluss stellt der BGH die Voraussetzungen auf, die eine Strafbarkeit bei vorgespiegelten Bewerbungen auf diskriminierende Stellenangebote zur Erlangung von Entschädigungsansprüchen (sog. AGG-Hopping) begründen können. In der Geltendmachung einer Forderung, auf die kein Anspruch besteht, könne eine schlüssige Täuschung über Tatsachen liegen. Die Annahme einer schlüssigen Täuschung setze aber voraus, dass mit dem Einfordern einer Leistung ein Bezug zu einer unzutreffenden Tatsachenbasis hergestellt oder das Vorliegen eines den Anspruch begründenden Sachverhalts behauptet wird. Jedenfalls im Versenden von außergerichtlichen Aufforderungsschreiben könne noch keine (konkludente) Täuschung über die fehlende subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung gesehen werden.

Examensrelevante Rechtsprechung – Mai 2023 Wiss. Hk. Benedikt M. Müller, LL.M. (Oslo)

Zur Wegnahme von leicht beweglichen Gegenständen (BGH, Urt. v. 4.5.2022 – 6 StR 628/21, NStZ 2023, 237)

Die zwei Angeklagte drangen in die in einem Mehrparteienhaus gelegene Wohnung des Geschädigten ein und entwendeten ihm, unter Zufügung von Schlägen mit einem Quarzsandhandschuh, einen mit Betäubungsmitteln gefüllten Rucksack. Durch laute Hilferufe aufmerksam gemachten Nachbarn gelang es im Hausflur beide Täter vor ihrer Flucht aus dem Gebäudes zu stellen und festzuhalten. Spätestens indem der Angeklagte mit dem Rucksack die Wohnung, nicht aber das Gebäude verlies, sah der BGH entgegen dem erstinstanzlichen Gericht eine vollendete Wegnahme und damit nicht „nur“ den versuchten besonders schweren Raubes gem. §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB (sowie § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG) verwirklicht. Der erforderliche Gewahrsamsbruch und -wechsel sei nach den Anschauungen des täglichen Lebens bei leicht beweglichen Sachen schon mit Ergreifen und Festhalten, bzw. dem offenen Wegtragen, spätestens aber mit dem Verlassen des umschlossenen Herrschaftsbereiches des bisherigen Gewahrsamsinhaber (hier: dessen Wohnung, nicht des Hauses) vollzogen. Eine Beobachtung oder sogar die anschließende Verhinderung der endgültigen Zueignung stehen dieser Betrachtung nicht entgegen.

Geschickte Einbrecher oder ungeschickte Urteilsbegründung? (BGH, Beschl. v. 25.10.2022 – 2 StR 296/22, NStZ-RR 2023, 78)

Für ein Eindringen im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist erforderlich, dass der Täter ein nicht zur ordnungsgemäßen Öffnung des Wohngebäude bestimmtes Werkzeug (oder falschen Schlüssel) zur Überwindung des Verschlusses verwendet. Gelingt es dem Täter dagegen ohne ein solches Werkzeugs über den nah an der Tür angebrachten Briefkastenschlitz die Tür zu öffnen (freilich schwer vorstellbar; das Fachgericht hat diesbezüglich aber keine Feststellungen getroffen und seine Entscheidung damit revisibel gemacht), erfülle dies nicht den Qualifikationstatbestand des Wohnungseinbruchsdiebstahls.

Pflicht und Ausnahmen zur elektronischen Übermittlung einer Revisionsbegründung (BGH, Beschl. v. 7.12.2022 – 2 StR 140/22, NStZ-RR 2023, 115)

In der Praxis inzwischen angekommen, dürfte die seit dem 1.1.2022 für Rechtsanwälte geltende (gestufte) Verpflichtung aus § 32d S. 1 und 2 StPO, bestimmte Schriftsätze als elektronische Dokumente zu übermitteln (vgl. auch § 32a StPO und § 31a BRAO), im rechtswissenschaftlichen Studium eher ein Schattendasein fristen. Für eine mündliche Prüfung indes, lassen sich hieraus mit einfachsten Mitteln Kenntnisse über eine ganz alltägliche juristische Tätigkeiten abfragen: Das Versenden von Schriftstücken. Für Anwälte die sich nicht von der Übermittlung in Papierform verabschieden wollen, stellte der BGH nun fest: Ein Verteidiger muss, um sich auf die Ausnahme aus § 32d S. 3 StPO berufen zu können, eine vorübergehende technische Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung glaubhaft machen. Daran fehlt es, wenn schon kein geeignetes System hierzu vorgehalten oder nicht umgehend für die Behebung der technischen Probleme gesorgt wird. Entsprechend eingelegte Schriftstücke (hier die Revisionsbegründung) gelten als nicht formgerecht eingelegt und bleiben damit unberücksichtigt.

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Examensrelevante Rechtsprechung –  April 2023 Wiss. Mit. und RA Dr. Kai-Daniel Weil

Freiwilligkeit beim Rücktritt (BGH, Beschl. v. 21.09.2022 – 6 StR 332/22, NStZ 2023, 156)

Gegenstand dieser Entscheidung war eine Frage, mit welcher Studierende frühzeitig im Rahmen ihrer (straf- )rechtlichen Ausbildung konfrontiert werden: Die Freiwilligkeit beim Rücktritt vom Versuch. Der Ange- klagte (im Folgenden: A) stach mit einem Messer in Richtung des Halses des Geschädigten (im Folgenden: G), um diesen zu verletzen sowie in dem Bewusstsein tödlicher Folgen. Dies war ihm jedoch gleichgültig. Da G allerdings ausweichen konnte, wurde er lediglich am Arm und Brustkorb getroffen. A wurde sodann von seinen Begleitern weggezogen, bedrohte G indes noch mit den Worten: „Das nächste Mal gibt es Tod.“ Unter lehrbuchartiger Anwendung der dogmatischen Grundsätze kam der BGH zu folgendem Ergebnis: „Der Annahme von Freiwilligkeit iSd § 24 Abs. 1 StGB steht es nicht [...] entgegen, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt oder die Abstandnahme von der Tat erst nach dem Einwirken eines Dritten erfolgt. Entscheidend ist vielmehr, ob der Täter nach seinem Vorstellungsbild noch weitere Ausführungshandlungen hätte vornehmen können und damit „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist [...].“ Dies unterstreicht im Allgemeinen die Bedeutsamkeit des Grundlagen- wissens und im Besonderen der subjektiven (Täter-)Perspektive bei der Rücktrittsprüfung. Bei entsprechen- der Anwendung respektive Beachtung hätte es nämlich ggf. keine Aufhebung der (rücktrittsverneinenden) Entscheidung bedurft.

Kraftfahrzeugrennen trotz kurzer Distanz (KG, Beschl. v. 18.05.2022 – 3 Ss 16/22)

Das KG (ausnahmsweise keine Entscheidung des BGH!) bejahte eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB wegen eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens, trotz einer (Renn-)Distanz von 50 Metern. Entscheidend sei nicht die Streckenlänge, sondern der beabsichtigte Vergleich der Beschleuni- gungsmöglichkeiten hochmotorisierter Fahrzeuge. Dogmatisch erscheint dies aufgrund der Ausgestaltung der Norm als abstraktes Gefährdungsdelikt zwar nachvollziehbar, allerdings sollte in einer Klausur zumin- dest über die Möglichkeit einer teleologischen Reduktion nachgedacht werden, sofern keine weiteren Ver- kehrsverstöße beim Rennen begangen wurden.

Betrug mittels PayPal-Konten: Eine Frage der Konkurrenzen (BGH, Beschl. v. 04.08.2021 – 4 StR 81/22, NStZ-RR 2022, 310)

Der Angeklagte wollte unter Angabe fiktiver Personalien diverse Mobilfunkverträge abschließen, um an hochwertige Smartphones zu gelangen – natürlich ohne zu zahlen. Zur Umgehung dieser Pflicht hatte er bei PayPal mehrere Konten erstellt, die er jeweils für zwei bis drei Bestellungen verwendete. Auf der Kon- kurrenzebene stellte der BGH dabei klar, dass das Speichern der beweiserheblichen Daten (Anlegen der PayPal-Konten) einer Strafbarkeit nach § 269 StGB unterfällt und dass die (versuchten) Betrugstaten, die durch die täuschende Verwendung der zuvor gespeicherten Kontodaten begangen wurden, zur Tateinheit verbunden werden. Mit anderen Worten: Das dreifache Verwenden eines angelegten PayPal-Kontos führt zu einer Strafbarkeit wegen Fälschung beweiserheblicher Daten in Tateinheit mit (versuchtem) Betrug in drei Fällen gem. §§ 269, 263, 52 StGB.

Examensrelevante Rechtsprechung – März 2023 Wiss. Hk. Aline Thome

Zum Verhältnis von Gefährdungsvorsatz nach § 315d Abs. 2 StGB und bedingtem Tötungsvorsatz (BGH, Urt. v. 18.8.2022 4 StR 377/21, NZV 2022, 569 (m. Anm. Preuß))
Der Angeklagte befuhr als „Einzelraser“ i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB mit weit überhöhter Geschwindigkeit die Überholspur der Autobahn und kollidierte mit dem ausscherenden PKW des Tatopfers, welches noch an der Unfallstelle verstarb. Die Schwerpunkte der Entscheidung liegen auf den Anforderungen an die Feststellung des Gefährdungsvorsatzes nach § 315d Abs. 2 StGB sowie dem Verhältnis des Gefährdungsvorsatzes zum bedingten Tötungsvorsatz. Hierbei hatte der Senat zu klären, ob es möglich ist, dass der Täter hinsichtlich desselben Tatobjekts mit Gefährdungsvorsatz, jedoch ohne Verletzungsvorsatz, handelt. Sofern der Täter ernsthaft darauf vertraut, einer drohenden Kollision noch „in allerletzter Sekunde“ ausweichen zu können, stellt er sich einen „Beinahe-Unfall“, mithin eine konkrete Gefahr, als naheliegende Möglichkeit vor und findet sich mit dem Eintritt dieser Gefahrenlage ab. Der BGH überträgt damit die Auslegung der Rechtsprechung zum Gefährdungsvorsatz in den §§ 315–315 c StGB auf § 315d StGB.

Rücktritt vom Tötungsversuch bei außertatbestandlicher Zielerreichung (BGH, Beschl. v. 3.5.2022 – 3 StR 120/22, BeckRS 2022, 14770)
In diesem „Klausurklassiker“ bestätigt der BGH seine in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung, dass die „außertatbestandliche Zielerreichung“ und die damit verbundene vom Täter erkannte Nutzlosigkeit der Tatfortsetzung weder zur Annahme eines fehlgeschlagenen Versuchs führt noch einer Freiwilligkeit des Rücktrittsentschlusses entgegensteht. Vorliegend trat der Angeklagte von hinten an das arglose Tatopfer heran und zog ihm unter billigender Inkaufnahme des Todes ein Messer am Hals entlang, um es als Hindernis bei der Umsetzung seines eigentlichen Planes, seine Ehefrau zu töten, „aus dem Weg zu schaffen“. Obwohl das Tatopfer hierdurch nicht tödlich verletzt wurde, sah er von einer weiteren Einwirkung ab und widmete sich seinem primären Handlungsziel.

Zum Gewahrsam des Bankkunden am Bargeld im Ausgabefach des Geldautomaten (BGH, Beschl. v. 3.3.2021 − 4 StR 338/20, NStZ 2021, 425 (m. Anm. El-Ghazi))
Ein Bankkunde führte in der Absicht, Bargeld abzuheben, seine EC-Karte in den Geldautomaten ein und gab die PIN-Nummer ein. Sodann verschafften sich die Angeklagten Zugriff auf den Automaten und tippten den auszuzahlenden Betrag anstelle des Opfers ein. Anschließend entnahmen sie das ausgegebene Bargeld aus dem Ausgabefach und entfernten sich. Dem Senat stellte sich die Frage, ob die Herausnahme von Bargeld, welches ein Geldautomat nach äußerlich ordnungsgemäßer Bedienung ausgibt, den Bruch des (gelockert fortbestehenden) Gewahrsams des den Automaten betreibenden Geldinstituts bzw. der für dieses handelnden natürlichen Personen darstellt oder ob die Freigabe des Geldes als willentliche Aufgabe des Gewahrsams zu werten ist. Die Beantwortung fällt innerhalb der Rechtsprechung des BGH uneinheitlich aus. Der 4. Strafsenat nimmt Bezug zu den ergangenen Entscheidungen in ähnlich gelagerten Fallkonstellationen, lässt die Streitfrage aber mit der Begründung offen, dass der Bankkunde bereits selbst Mitgewahrsam an dem ausgegebenen Bargeld erlangt habe, den die Angeklagten jedenfalls dadurch gebrochen haben, dass sie das Bargeld aus dem Ausgabefach entnahmen.

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Examensrelevante Rechtsprechung – Februar 2023 Wiss. Mit. Fatih-Anil Uzun

Entschlussfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs iSd § 316a StGB (BGH, Beschl. v. 07.07.2022 – 4 StR 508/21)                
In dieser Entscheidung geht es um das Inszenieren eines Auffahrunfalls mit dem Ziel, den Unfallgegner zum Halten zu bringen um ihn anschließend zu berauben. Der BGH bestätigt mit dieser Entscheidung einen Angriff auf die Entschlussfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs und wertet das Tatgeschehen als räuberischen Angriff auf Kraftfahrer gem. § 316a Abs. 1 StGB. Der BGH wertet die herbeigeführte Kollision – auch wenn hierin ein täuschendes Element vorhanden sei – nicht als List, sondern als Entfaltung einer nötigungsgleichen Wirkung. Begründet wird dies mit dem empfundenen Zwang des Fahrzeugführers – aufgrund der sanktionsbewehrten Rechtspflicht – am Unfallort zu bleiben und Feststellungen zu der Person zu ermöglichen.

Zum unmittelbaren Ansetzen beim versuchten Wohnungseinbruchdiebstahl (BGH, Beschl. v. 19.05.2021 – 6 StR 28/21)
Der Angeklagte entschloss sich gewaltsam in ein Wohnhaus einzudringen. Dafür warf er mit einem Stein ein Loch in eine Glasscheibe, um durch das Loch hineinzugreifen, die Klinge des Fensters herunterzudrücken, um somit in die Wohnräume zu gelangen. Jedoch wachten die schlafenden Hausbewohner wegen dem Einwerfen der Scheibe und dem damit verursachten Lärm auf und schalteten das Licht im Treppenhaus an. Dies bemerkte der Angeklagte und ging davon aus, das Haus nicht mehr ungestört durchsuchen zu können, sodass er sich entfernte. Der BGH beschäftigte sich vorliegend mit der Frage des unmittelbaren Ansetzens beim Wohnungseinbruchdiebstahl und stellt klar, dass das wesentliche Kriterium für die Abgrenzung zwischen Vorbereitungs- und Versuchsstadium – inwieweit das geschützte Rechtsgut aus Sicht des Täters konkret gefährdet ist – auch für die Prüfung des Versuchsbeginns bei Qualifikationstatbeständen oder Tatbeständen mit Regelbeispielen sei. Dies sei beim Wohnungseinbruchdiebstahl regelmäßig anzunehmen, wenn der Täter beim Beginn des Einbrechens, Einsteigens oder Eindringens beabsichtigt, sich nach dem direkten Begeben in die Wohnung daraus Gegenstände zu entwenden. Da der Angeklagte im vorliegenden Fall beim Einwerfen der Glasscheibe diese Vorstellung gehabt haben soll, sei das geschützte Rechtsgut aus seiner Sicht schon mit dem Beginn des Einwerfens der Glasscheibe konkret gefährdet.

Zur tätigen Reue bei der Brandstiftung gem. § 306b II Nr. 1 StGB (BGH, Beschl. v. 27.05.2020 – 1 StR 118/20)
Die Vorschrift der tätigen Reue des § 306e Abs. 1 StGB sei auf die Qualifikation des § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB analog anzuwenden, wenn – wie im entschiedenen Fall – der Täter, statt den Brand zu löschen, die konkrete Lebensgefahr für das Opfer freiwillig durch anderweitige Rettungshandlungen beseitigt. Der BGH befürwortet damit die hierzu vertretene Ansicht, dass eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 2 StGB in Betracht kommt, wenn der Täter die Gefahr auf andere Weise als das Löschen des Brandes abwendet. Da nach überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur eine Analogie zu Gunsten des Täters zulässig ist, steht Art. 103 Abs. 2 GG diesem Ergebnis nicht entgegen.

Examensrelevante Rechtsprechung – Januar 2023 Wiss. Hk. Benedikt M. Müller, LL.M. (Oslo)

Gesamtwürdigung bei der Feststellung von niedrigen Beweggründen (BGH, Urt. v. 30.3.2022 – 5 StR 358/21, NStZ 2022, 740 = BeckRS 2022, 8075)

Für die Begründung eines niedrigen Beweggrundes i.S.v. § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB bedarf es einer Gesamtwürdigung der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit. Auch grundsätzlich nachvollziehbare Gefühlsregungen wie Wut oder Ärger können dann als niedrige Beweggründe in Betracht kommen, wenn sie nicht mehr menschlich verständlich sind. Hiervon ist der BGH in einem Fall ausgegangen, in welchem der Angeklagte auf eine von ihm so verstandene (marginale) Respektlosigkeit („Anrempeln“) eines 13-Jährigen, maßlos übertrieben reagierte, diesen scharf „anpöbelte“ und aus dem folgenden Wortgefecht mit einem tödlichen Messerstich „als Sieger vom Platz gehen“ wollte.

Bestimmung der Obhuts- und Beistandspflicht nach § 221 I Nr. 2 StGB (BGH Urt. v. 21.9.2022 – 6 StR 47/22, StraFo 2022, 482)

Nach den Urteilsfeststellungen tranken die Angeklagten zusammen mit O eine erhebliche Menge Alkohol in einer Gaststätte, in dessen Folge insbesondere O derart intoxikiert war, dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte und eine Böschung zum Ufer eines Flutkanals hinabstürzte, wo er sich im untätigen Beisein der Angeklagten versuchte aufzurichten, das Gleichgewicht verlor, in das fließende Gewässer stürzte und ertrank. Der BGH führt aus, dass zur Bestimmung der Obhuts- und Beistandspflicht im Zusammenhang des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB die Grundsätze heranzuziehen sind, die für die Entstehung einer Garantenstellung i.R.d. § 13 StGB gelten. Vor diesem Hintergrund bejaht der BGH eine Pflicht der Angeklagten (aus sog. „Ingerenz“) u.a. deshalb, weil diese, nach dem gemeinsamen Umtrunk im Wissen um die Hilflosigkeit des O diesen aus dem Einflussbereich der anwesenden Personen in der Gaststätte verbrachten und am Uferrand jede Hilfe versagten. Hierdurch sei die für das Opfer bestehende Gefahr jeweils wesentlich erhöht und damit eine Beistandspflicht begründet worden.

Anforderungen an eine drogenbedingte Fahruntüchtigkeit (BGH, Beschl. v. 2.8.2022  (4 StR 231/22, NStZ 2022, 741 = BeckRS 2022, 20794))

Anders als im Zusammenhang zu Alkoholkonsum und der in der Praxis hierzu entwickelten, „Promillegrenzen“ (als prozessuale Beweisregeln) genügt ein bestimmter Blutwirkstoffbefund betreffend Betäubungsmitteln alleine nicht zum Nachweis einer drogenbedingten Fahruntüchtigkeit i.S.v. § 316 Abs. 1 Alt. 2 bzw. § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 2 StGB. Vielmehr bedarf es „weiterer aussagekräftiger Beweisanzeichen, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des Kraftfahrzeugführers soweit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig gewesen ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen sicher zu steuern.“ Der BGH sieht im Fall ein solches Beweisanzeichen nicht schon darin, dass der Angeklagte grob fehlerhaft und risikoreich gefahren ist, weil dieses Verhalten auch darauf habe ausgerichtet sein können, sich von den ihn verfolgenden Polizeifahrzeugen abzusetzen.

Examensrelevante Rechtsprechung –  Dezember 2022 Wiss. Mit. und RA Dr. Kai-Daniel Weil

Zur objektiven Zurechnung bei sog. Berufsrettern (BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 m. Anm. Mitsch) 

In dieser Entscheidung widmet sich der BGH der Thematik der objektiven Zurechnung im Kontext des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung bzw. Körperverletzung gem. §§ 222; 229 StGB. Konkret stand die Frage im Raum, ob sich eine fahrlässig herbeigeführte Gefahr im eingetretenen Erfolg zurechenbar niederschlägt, wenn sog. berufsmäßige Retter (bspw. Feuerwehrleute) einschreiten und dabei Verletzungen erleiden. Schon fast lehrbuchartig erörtert der BGH Fragen aus dem Bereich der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und bejaht letztendlich die Zurechenbarkeit. 

Zum Alternativvorsatz bei verschiedenen Rechtsgutsträgern (BGH, Urt. v. 14.01.2021 – 4 StR 95/20, NJW 2021, 795 m. Anm. Mitsch) 

A schlug nach den Urteilsfeststellungen mit einem Hammer in Richtung der N sowie deren dahinter befindlichen Bruder B, der letztendlich getroffen und verletzt wurde. A hielt es dabei für möglich, dass der Hammer N oder B treffen und verletzen könnte, was er auch billigend in Kauf nahm. Der BGH bestätigt die Verurteilung des A wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung betreffend N und wegen (vollendeter) gefährlicher Körperverletzung bzgl. B. (gem. §§ 223, 224 I Nr. 2, 22) StGB in Tateinheit gem. § 52 StGB). Konkret stehe ein sog. Alternativvorsatz der Annahme zweier bedingter Körperverletzungsvorsätze nicht entgegen, da gerade ein Handeln mit einem erstarkten kognitiven Element nicht festgestellt werden konnte. Zwar könne ein sicheres Wissen die Annahme zweier Vorsätze in einer solchen Konstellation ausschließen. Dies gelte jedoch nicht für zwei Eventualvorsätze, da die hierin zu sehende Annahme einer jeweils bloßen (Realisierungs-)Möglichkeit eine entsprechende Begründung zulasse. Fraglich bleibt indessen, ob bei derartigen Feststellungen überhaupt ein alternativer Vorsatz angenommen werden kann oder nicht vielmehr ein kumulativer Eventualvorsatz vorliegt. 

Zur Erforderlichkeit der Notwehrhandlung beim Einsatz eines Messers (BGH, Beschl. v. 23.09.2021 – 1 StR 321/21, NStZ 2022, 352) 

A und N trafen sich nach einer am gleichen Abend vorangegangen Gruppen-Rangelei vor einer Gaststätte in L wieder. Hierbei kam es erneut zum Streit, bei welchem A zweimal (vermutlich) mit einem Messer auf N einstach, als dieser von N (teilweise) fixiert auf dem Rücken lag. Zugunsten des A war davon auszugehen, dass N zuerst auf A einschlug. Die daraus resultierende Verurteilung des A gem. §§ 223, 224 StGB hob der BGH auf, da das LG eine mögliche Notwehrsituation (§ 32 StGB) zugunsten des A nicht geprüft hatte – trotz Einsatz eines Messers. Ein solcher könne nämlich auch ohne vorherige Androhung im Rahmen einer Notwehrhandlung erforderlich sein (die Konstellation erinnert an den sog. Hells-Angels-Fall, vgl. BGH. Urt. v. 02.11.2011 – 2 StR 375/11, NStZ 2012, 272 m. Anm. Engländer). 

Examensrelevante Rechtsprechung – November 2022 Wiss. Hk. Aline Thome

Der sog. „Insulin-Fall“: Abgrenzung von Tötung auf Verlangen zur straflosen Suizidbeihilfe (BGH, Beschl. v. 28.6.2022 – 6 StR 68/21, NStZ 2022, 663 (m. Anm. Hoven/Kudlich))

In der Entscheidung kehrt der BGH für die Differenzierung zwischen Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB und strafloser Beihilfe zum Suizid nicht von den bisherigen Maßstäben der Rspr. (insb. zum „Gisela-Fall“ (BGHSt 19, 135) und „Gashahnfall“) ab, wendet diese aber weitreichender an. Dabei soll weiterhin die Tatherrschaft des Handelnden maßgeblich sein, die nicht allein anhand des letzten Handlungsakts, sondern durch eine wertende Betrachtung des gesamten Geschehens zu interpretieren ist. Insoweit scheint die Entscheidung im Hinblick auf die Feststellung von Tatherrschaft von den bisherigen Kriterien abzuweichen. Daneben überträgt der BGH die vom BVerfG in Bezug auf § 217 Abs. 1 StGB entwickelten Grundsätze auf § 216 Abs. 1 StGB, weil diese Vorschrift in vergleichbarer Weise in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben eingreift. Er befürwortet eine verfassungskonforme Reduktion des § 216 Abs. 1 StGB dahingehend, diejenigen Fälle aus dem Anwendungsbereich der Norm auszunehmen, in denen der Sterbewillige zur Durchführung des Suizids auf Dritte angewiesen ist.

 

Der sog. „Porsche-Mord“: Normative Korrektur der Heimtücke (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 − 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 (m. Anm. Nettersheim))

Begeht der Täter seine Tat als Opfer einer Erpressung in einer bestehenden Notwehrlage, kann dies – unbeschadet der weiteren Voraussetzungen dieses Rechtfertigungsgrundes – Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage heimtückischen Handelns haben. Das Mordmerkmal der Heimtücke ist insoweit einer normativ einschränkenden Auslegung zugänglich, die dem Wortsinn des Begriffs mit dem ihm innewohnenden Element des Tückischen Rechnung zu tragen hat. Insoweit verwendet der Erste Senat die Wendung „Tücke“ als Einfallstor für eine normative Bewertung des Gesamtgeschehens, welches einer heimtückischen Begehung entgegenstehen soll. Auf Rechtfertigungsebene ist zu berücksichtigen, dass es einem Opfer längerfristiger Erpressung in der Regel möglich und zumutbar ist, sich zur Abwehr des Angriffs an die Strafverfolgungsbehörden zu wenden, und dies dem Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung („nemo tenetur“) nicht widerspreche. Der Fall weist Parallelen zum „Haustyrannenfall“ (BGHSt 48, 255) auf, bei dem ebenfalls die Gegenwehr des Opfers veranlasst wird. Während dort Korrekturen über die sog. Rechtsfolgenlösung vorgenommen wurden, verneint der BGH (in Anknüpfung an den Chantage-Fall, BGHSt 48, 207) hier den Tatbestand des Mordes wohl durch eine teleologische Reduktion des Merkmals der Heimtücke.

 

Täuschungsbedingtes Einverständnis in die Freiheitsberaubung (BGH, Urt. v. 8.6.2022 − 5 StR 406/21, NJW 2022, 2422 (m. krit. Anm. Kudlich/Schütz))

In einer aktuellen Entscheidung stellt der BGH entgegen der im Schrifttum weit verbreiteten Ansicht, dass es auf die aktuelle Fortbewegungsfreiheit ankäme nochmals klar, dass Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB die potentielle persönliche Bewegungsfreiheit ist. Entscheidend ist allein, ob es dem Opfer unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern. Ob er seine Freiheitsbeschränkung überhaupt realisiert, ist danach ohne Belang. Ein durch List oder Täuschung erschlichenes Einverständnis des Betroffenen in eine ihm nicht bewusste Freiheitsentziehung stelle sich lediglich als ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung durch Verhinderung des zu erwartenden Widerstands des Betroffenen dar, das nicht zu einem Ausschluss des objektiven Tatbestands des § 239 Abs. 1 StGB führen kann. Freilich könnte man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass etwaige Täuschungen die Wirksamkeit eines Einverständnisses unberührt lassen.