1 000 000 000 Grüße und Küsse zwischen Smyrna und München

Habilitationsprojekt seit 2014

von Jun.-Prof. Dr. Simone Egger

Teil 1: Aspasia Schönwald. Eine transnationale Biografie (1891-1955)

Im Rahmen ihres Habilitationsprojekts spürt Simone Egger der Biografie von Aspasia Schönwald aus der Perspektive der historischen Anthropologie nach. Aspa ist 1891 in Athen geboren und in Smyrna an der osmanischen Ägäis Küste aufgewachsen. In ihrer Lebenswelt in der kosmopolitischen Hafenstadt war sie gewohnt, mindestens sechs Sprachen zu sprechen: Griechisch, Türkisch, Französisch, Englisch, Deutsch und Italienisch, zudem konnte sie Türkisch in osmanischer Schrift und wahrscheinlich auch Armenisch lesen. 

Ein Platzwechsel (Bourdieu 1989: 82) sollte ihre Biografie maßgeblich prägen und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt der Analyse: 1909 ist die 18jährige Aspa zu einem Auslandsaufenthalt nach München gekommen und hat als protestantisch-orthodoxe Christin mehrere Monate bei Pastor Lembert und seiner Familie im Pfarrhaus der evangelischen Lukaskirche verbracht. Auf der Neujahrsfeier des nahe gelegenen Turnverein Jahn lernte die sportbegeisterte junge Frau im Januar 1910 den gleichaltrigen Wilhelm Boeck kennen – und verliebte sich. Obgleich die Gastfamilie strikt gegen die Verbindung war und Aspa das Haus aufgrund moralischer Bedenken verlassen musste, nachdem sie aufgeflogen war, festigte sich ihre Beziehung zu Willy.

Aspas Bewegungen zwischen dem Osmanischen Reich und dem Deutschen Kaiserreich, Österreich-Ungarn und dem Königreich Griechenland sind aus einer historisch anthropologischen Perspektive in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, queren und verknüpfen ihre Aktivitäten doch geopolitische Räume, deren enge Verbindung im 19. und frühen 20. Jahrhundert über die Weltkriege in Vergessenheit geraten scheint. Dabei kann „[d]ie Transnationalisierung der Welt genauer zu betrachten, …,“ wie der Soziologe Ludger Pries konstatiert, „zu einem tieferen Verständnis der Wandlungsdynamiken am Beginn des 21. Jahrhunderts führen. Wer ein Verständnis für die tatsächliche Transnationalisierungsdynamik der Welt entwickelt, dem erschließen sich besser die komplexen Wechselwirkungen zwischen ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Phänomenen auf der lokalen, mikro-regionalen, nationalen, makro-regionalen und globalen Ebene“ (Pries 2018: 16).

Teil 2: Briefe an die Milchstraße. Eine transnationale Liebe (1911-1918)

Eine Liebe war Ausgangspunkt für ein transnationales Geflecht, das Menschen und Städte, Milieus und Situationen in den 1910er Jahren miteinander verbunden hat und aus heutiger Sicht den Blick freigibt auf ein Europa, das sich zunächst einmal nicht über Grenzen, sondern mittels Beziehungen konstituiert.

Aspas Wahrnehmung ist ohne den Kosmos von Smyrna und dessen Habitus nicht zu denken, und zugleich nimmt die Stadt erst in ihrem Sprechen und Schreiben überhaupt Gestalt an. In ihren Briefen hat sie über Jahre hinweg eine rational wie ästhetisch erfahrbare Assemblage entstehen lassen – ein Smyrna aus Atmosphären, Anmutungsqualitäten, materiellen wie immateriellen Themen, Topoi und Erlebnissen. Wesentlich für das Habilitationsprojekt von Simone Egger ist die Edition der rund 270 Briefe und Postkarten, die Aspa im Zeitraum von 1911 bis 1918 – ebenso wie zahllose Fotografien – von Smyrna nach München und an andere Orte in Bayern gesendet hat.

Der Zensurstempel auf dem Briefumschlag reiht sich an die türkisch-osmanische Beschriftung der Post, verbindet sich mit den beigelegten Bildern und deren Beschreibung, Aspas Sehnsucht, ihrer Position als Frau in der Gesellschaft, dem Duft von frischen Feigen, einer Szene am Hafen, dem Besuch des Paschas, der Beschreibung sozialer Differenzen und zensierten Texten über Hungerleidende, der Seidentoilette, die Aspa am Abend trägt, regelmäßige Verbindungen nach British East Africa oder einer Frage an Willy in München … 

Feld und Gegenstand lassen sich schwerlich in einem Satz umreißen: eine Rolle spielen Menschen, Städte, Weltreiche, und nicht zuletzt der Krieg. Es geht um Ketten von Assoziationen – wie es der Soziologe Bruno Latour ausdrückt (2005) –, um wunderbare Netzwerke, die in Schichten übereinander liegen und vielfach ineinander verschachtelte, relationale Räume entstehen lassen. Innerhalb dieser Räume spielen variierende Denkweisen eine Rolle, die Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede sichtbar machen.

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