Fokus

Streit um eine neue Verfassung

Die 68er-Proteste wurden an der Universität als eine kulturelle Rebellion gegen überkommene akademische Gepflogenheiten ausgefochten, aber auch sehr konkret als Kampf um die Verteilung der politisch-institutionellen Macht. Dabei forderten die protestierenden Studierenden und Beschäftigten vor allem eine verstärkte Beteiligung an den akademischen Selbstbestimmungsrechten. Denn an der Universität der Zeit vor „68“ lag die Entscheidungsgewalt über alle Belange so gut wie ausschließlich bei den planmäßigen Professorinnen und Professoren. Die Rechtsgrundlage dafür bildete im Saarland das Universitätsgesetz von 1957, das nach dem Wechsel der Saar-Uni ins deutsche Hochschulsystem erarbeitet worden war und der Universität weitgehende Autonomie einräumte („Saarbrücker Modell“). Auf Grundlage dieses Landesgesetzes regelte die von der Universität selbst erlassene Verfassung 1958 die inneren Angelegenheiten der Hochschule. Sie räumte den Studierenden und den wissenschaftlichen Assistenten und Assistentinnen Mitwirkungsrechte ein, die sich zwar auf Anhörung oder Mitsprache in den sie selbst betreffenden Angelegenheiten beschränkten, damit jedoch über das andernorts Übliche deutlich hinausgingen.1

Aufgrund dieser vergleichsweise fortschrittlichen Regelung sah man sich in Saarbrücken zu Beginn der Proteste 1967/68 zunächst gut gerüstet und erkannte keinen größeren Handlungsdruck. Hinzu kam, dass an der Spitze der Uni mit dem Strafrechtler Werner Maihofer ein Rektor stand, der den Mitbestimmungswünschen der nicht-professoralen Universitätsmitglieder interessiert und konstruktiv begegnete: Auf seine Initiative wurde bereits Anfang 1968 eine Reformkommission zur Überarbeitung der Universitätsverfassung eingesetzt. Beratungsgrundlage dieser Kommission war das von Maihofer entwickelte und auch auf Bundesebene erfolgreich vorgestellte Modell einer „qualitativen Repräsentation“ der universitären Gruppen. Während die Protestierenden die „Drittelparität“ in den Gremien forderten, also eine im quantitativen Sinne gleichberechtigte Vertretung von Professorenschaft, Studierenden und Assistenten, betonte Maihofers Konzept die Unterschiedlichkeit der Funktionen und Verantwortungen der universitären Mitglieder und leitete daraus unterschiedlich weitgehende Mitbestimmungsrechte ab.2

Der in langwierigen Beratungen erarbeitete Reformvorschlag sah schließlich erhebliche Erweiterungen der Partizipation für Studierende und Assistenten vor, allerdings weiterhin eine Mehrheitsposition der Professorenschaft. So waren etwa im Konzil, dem höchsten Gremium der Universität, bis dahin sämtliche 120 planmäßigen Professorinnen und Professoren stimmberechtigt, jedoch nur fünf Studierende sowie acht Assistenten oder Assistentinnen. Demgegenüber dehnte der Reformentwurf zum einen die Gruppenzugehörigkeit aus – so wurden alle wissenschaftlichen Bediensteten mit den Assistenten gleichgestellt – und legte zum anderen die Stimmenverteilung für die drei Gruppen auf das Verhältnis von 2:1:1 fest. Studierende und wissenschaftliche Beschäftigte zusammen hatten somit die gleiche Stimmenanzahl wie die Professorenschaft. Für die Wahl des Rektors sollte diese erweiterte Mitbestimmung allerdings nicht gelten.3

Die Vorlage war von Maihofer als ein erster Reformschritt gedacht, der den Weg für eine weitere Demokratisierung der Universität bahnen sollte. Nicht zuletzt wollte die Universität mit dieser Neuerung ihre Selbständigkeit bewahren und aus eigener Kraft die anstehende Reform ihrer inneren Machtverhältnisse angehen.4

Tatsächlich gelang es, die Beratungen in der gruppenübergreifend besetzten Kommission abzuschließen und den Vorschlag für die veränderte Verfassung vorzulegen. Doch den zusehends radikalisierten Protestierenden gingen die ▶ Reformschritte längst nicht weit genug. Schon die Beratungen der Kommission wurden von permanenten Protesten begleitet, in Blockaden, Happenings und Vorlesungsstörungen bekundeten die Demonstrierenden ihre ▶ Ablehnung des Kompromisskurses. Als die Vorlage im November 1968 vom Konzil verabschiedet werden sollte, musste die Sitzung nach Homburg verlagert werden, um überhaupt stattfinden zu können, und auch dort sahen sich die Mitglieder gewalttätigen Störversuchen ausgesetzt, gegen die man sich mit einer „Phalanx von Professoren“ handgreiflich zur Wehr setzte.5

Die neue Verfassung wurde letztlich mit großer Mehrheit beschlossen und trat 1969 in Kraft. Sie sah auch im Senat und in den Fakultätsräten erweiterte Mitwirkungsmöglichkeiten vor, insbesondere entfiel für Studierende und wissenschaftlich Beschäftigte die Beschränkung ihrer Mitbestimmungsrechte auf die „eigenen Angelegenheiten“.6

▶ Der Streit war damit aber nicht beigelegt. Denn die Thematik der Hochschulbildung im Allgemeinen und ihrer Demokratisierung im Besonderen hatte inzwischen zu viel politisches Gewicht erhalten, als dass die Politik diese Fragen der Universität überlassen wollte – noch im Sommer 1969 eröffnete die Landesregierung die Beratungen für ein neues Universitätsgesetz, um damit die Entscheidung der strittigen Themen nunmehr an sich zu ziehen. Das Tauziehen der Gruppen und Fraktionen an der Universität setzte damit aufs Neue ein; Diskussionen, Proteste und Demonstrationen bestimmten auch die nächsten Jahre. Auch diesmal reichten den Kerntruppen des 68er-Protestes die avisierten Reformen nicht aus, während konservative Kräfte in scharfen Worten vor der fortschreitenden Politisierung von Lehre und Forschung warnten und die Autonomie der Universität in Frage gestellt sahen.7

In der Tat war die Selbständigkeit des bisherigen „Saarbrücker Modells“ durch das Eingreifen des Landes weitgehend aufgehoben. Das 1971 verabschiedete Gesetz definierte fünf universitäre Mitgliedergruppen (zu Professoren, Studierenden und wissenschaftlich Beschäftigten kamen Assistenzprofessoren sowie Verwaltungs- und technisches Personal hinzu), legte ihre Mitwirkungsrechte und Stimmenanteile fest und vollzog damit endgültig den Schritt zur Gruppenuniversität. Diese Regelungen mussten anschließend durch die Universität in Form einer neuen Verfassung übernommen und konkret ausgestaltet werden, so dass 1972 mit der veränderten Univerfassung nunmehr das dritte umfassende Regelwerk innerhalb kurzer Zeit diskutiert wurde. Die damit verbundenen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten stellten eine Zerreißprobe für die Universität dar. Im Ergebnis war durch die neue Rechtsgrundlage jedoch gewährleistet, dass die Selbstverwaltung der Universität demokratisch durch ihre Mitglieder gestaltet werden konnte. Die Notwendigkeit von Zweidrittel-Mehrheiten bei wichtigen Fragen wie Verfassungsänderungen und Präsidentenwahlen sorgte zudem dafür, dass die einzelnen Gruppen zur Kooperation und zur Berücksichtigung auch der jeweils anderen Interessen angehalten waren – ein Grundelement universitärer Willensbildung bis heute.8

Ute E. Flieger / Thilo Offergeld

 

Anmerkungen

  1. König, Meinung, S. 21f.; Maihofer, Universitätsgesetz, S. 390–399; SZ, 18.6.1968.
  2. Leicht, Lage; FAZ, 23.5.1968; Maihofer, Universitätsgesetz, S. 390.
  3. Verfassung 1969, Art. 3 und Art. 14; Schuster, Entwicklung, S. 55f.
  4. SZ, 19.10.1968; Maihofer, Universitätsgesetz, S. 390, Schuster, Streiflichter, S. 200.
  5. Von Homburg nach Europa, 18:28-22:02 und 22:02-23:29 Min.; König, Meinung, S. 28; SZ, 19. und 21.11.1968 (Zitat); Maihofer, Universitätsgesetz, S. 398–400; Abel u. a., Wucht, S. 109.
  6. Verfassung 1969, Art. 5 –10 und 20f.; Schuster, Entwicklung, S. 55f.
  7. Von Homburg nach Europa, 23:29-25:25 Min.; Schuster, Streiflichter, S. 198–201; Schuster, Modell.
  8. Universitätsgesetz 1971, bes. §§ 20 und 21; Verfassung 1972; Schuster, Entwicklung, S. 56–68.