Fokus
Europäische Universität
„Europa! Das ist das Wort, das wir als Losung und Parole wählen, indem wir uns als europäische Universität bekennen.“ Der vielzitierte Satz war die Quintessenz der Antrittsrede des zweiten Rektors der Universität des Saarlandes, Professor Joseph-François Angelloz, im November 1950. Der Germanist und deutsch-französische Mittler sah die Saar als „Bindeglied zwischen Frankreich und Deutschland und Keimzelle für ein künftiges Europa“, was der Vision des saarländischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann entsprach, der ebenso wie der französische Hochkommissar Gilbert Grandval bei Angelloz Ansprache zugegen war. Ganz in diese Richtung wies auch Angelloz Vortrag „Auf dem Wege zum europäischen Vaterland“, den er anlässlich der Eröffnung des Europa-Instituts 1951 hielt. Neben dem Europa-Institut als „Krone und Symbol der gesamten Universität“ symbolisierte das 1955 gegründete „Institut für die Vergleichung und Annäherung des europäischen Rechts“, das Einblicke in die herausfordernde Praxis europäischer Zusammenarbeit versprach, den europäischen Anspruch der Saar-Universität. Angelloz Konzept einer „europäischen Universität“ deckte sich mit den Zielsetzungen der politischen Entscheider: Nach Ansicht Gilbert Grandvals dokumentierte eine „Université de rayonnement européen“ die erfolgreiche und notwendige saarländisch-französische Zusammenarbeit; Johannes Hoffmanns Idee einer „Université de constitution européenne“ versprach saarländische Autonomie und Anerkennung auch über die Grenzen des Saarlandes hinaus.1
Die meisten Saar-Medien griffen die Idee einer europäischen Hochschule euphorisch auf; die Saarbrücker Zeitung sah in Angelloz’ Rede gar eine Art Startschuss für die „Europäische Universität des Saarlandes“. Etlichen Presseorganen in Westdeutschland und der Europa-Ausgabe der „Herald Tribune“ galt die „European University of the Saar“ als vorbildhaft. Im „Journal de Genève“ stand zu lesen, Europa sei an der Saar-Universität kein Mysterium, sondern eine Lösung. Doch es gab auch weniger Gegenliebe, gerade unter denen, die den Saar-Staat kritisch beäugten. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ brachte die Vorbehalte auf den Punkt und titelte Ende 1954: „Alma Mater Saraviensis. Europäische Universität oder französisches Propaganda-Institut?“ Auch um solcher Kritik zu begegnen, warben die Befürworter der Saarbrücker Hochschule um Unterstützung und Anerkennung, auch außerhalb der Saarregion.2
Allerdings war der Versuch, der Saarbrücker Hochschule offiziell das Label „Europäische Universität“ zukommen zu lassen, bereits 1950 unternommen worden und im Sande verlaufen. Im August hatte sich eine hochrangige Delegation saarländischer Politiker zum Europarat nach Straßburg aufgemacht: Zwar wusste Kultusminister Emil Straus anfangs noch Positives vom Gang der Dinge zu berichten, doch geriet rasch Sand ins Getriebe, als der Europarat weitere Beratungen aufschob und nicht mehr aufnahm. Auch spätere Anläufe in diese Richtung blieben erfolglos. So etwa die Initiative des Neuzeithistorikers Jean-Baptiste Duroselle, mit Rückendeckung von Europarat und UNESCO ein „Institut européen des sciences sociales“ zu gründen, oder der Vorschlag des niederländischen Politikers Marinus van der Goes van Naters, 1953 Verfasser eines Europarat-Berichts zur Saar-Frage, die Universität des Saarlandes unter die Obhut des Europarates zu stellen.3
Ob die Saarbrücker Universität auch ohne offiziellen Status eine „europäische“ war, blieb kontrovers im öffentlichen Raum diskutiert. Doch unabhängig davon war sie im Laufe der 1950er Jahre eine zweisprachige Landesuniversität geworden, die Elemente deutscher Bildungstradition mit erkennbaren europäischen Momenten verband und damit sowohl im deutschen wie im internationalen Kontext etwas Besonderes darstellte. Personell wie institutionell wirkte der europäische Anspruch als wichtiges Regulativ, wobei „europäisch“ in Forschung, Lehre, Dozentenschaft de facto meist „deutsch-französisch“ meinte. Dies galt auch für das Europa-Institut, das trotz enger Kooperation mit anderen Europa-Einrichtungen, trotz europäischer Tagungen und Studienreisen, einen gewissen deutsch-französischen Anstrich hatte und besonders Studierende aus dem Saarland, Deutschland und Frankeich anzog. Offensichtlich gelang es dem Saar-Staat der frühen 1950er Jahre gerade im Hochschulbereich, „saarländische Wirklichkeit als deutsch-französische Mischform zu gestalten“.4
In das Fahrwasser des harsch ausgefochtenen Abstimmungskampfes über das Europastatut 1955 gerieten auch die Universität und die Debatten über deren Zukunft. Nach dem mehrheitlichen Nein zur Europäisierung der Saar im Referendum vom 23. Oktober wurden Forderungen nach der Schließung der Hochschule und des Europa-Instituts als „angeblicher Propagandazentrale der Hoffmann-Regierung“ laut. Diese Appelle standen neben zwiespältigen Einschätzungen, die einerseits zwar eine Abhängigkeit von der Saar-Politik beobachteten, aber zugleich die Universität als Stätte freundlicher kultureller Begegnung wertschätzten. Dritte plädierten für den Erhalt der Universität als „übernationales wissenschaftliches Zentrum deutsch-französischer Versöhnung“ unter Schirmherrschaft des Europarats. Dies wiederum rief die prodeutschen Kräfte auf den Plan, die die Hochschule in aller Schärfe als „Produkt“ des Rektors Angelloz anprangerten. Engagierten Studierenden ging es vorrangig darum, die ausgetretenen politischen Pfade hinter sich zu lassen; der Präsident des Studierendenparlaments hoffte auf ein Ende wahltaktisch bedingter Diffamierungen und forderte den Erhalt des übernationalen Charakters der Universität.5
Mit dem Eingliedern der Saar in die Bundesrepublik 1957 erfolgten nach und nach strukturelle Anpassungen; bereits im Mai wurde die Universität des Saarlandes in die westdeutsche Rektorenkonferenz aufgenommen. Formal war die Hochschule fortan eine „normale“ westdeutsche Landesuniversität, allerdings mit einer spezifischen deutsch-französischen Gründungsgeschichte und einem fortwährenden europäischen Anspruch in „Ausstrahlungs-“ und „Einstrahlungskraft“, wie der neue Rektor Heinz Hübner 1957 betonte. Gewiss kehrten etliche französische Lehrkräfte der Universität den Rücken, doch wurden einige vom Verwaltungsrat Ende März 1957 auch auf Ordinariate und Extraordinariate berufen. Weitere Berufungen französischer Kollegen waren in Vorbereitung, ebenso der Einsatz „einer größeren Anzahl von Gastprofessoren und Lehrbeauftragten von den benachbarten französischen Universitäten“.6
Vor der Folie deutsch-französischer Hochschulrealitäten zu Zeiten des Saar-Staats mochte es manchem Studierenden später so erscheinen, als sei der europäische Gedanke mit der Übergabe in deutsche Hände begraben worden. Doch entsprach dies nur bedingt den Tatsachen, denn die Saar-Universität hielt am Gründungsauftrag fest: keine andere westdeutsche Hochschule vergleichbarer Größe hatte Mitte der 1960er Jahre mehr Menschen aus Frankreich im Lehrkörper, mehr Studierende aus Frankreich auf dem Campus. Die Zahlen gingen im Laufe der 1970er Jahre zurück, doch auch in den 1980ern waren es deutsch-französische Aktivitäten, die der Saar-Universität überregionale Außenwirkung bescherten: „Wo Franzosen und Deutsche zusammen studieren“, wie dies die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1986 in einem Artikel über deutsch-französische Studienmöglichkeiten an der Saar-Uni auf den Punkt brachte. Um neuerlich zu unterstreichen, dass der Saarbrücker Europaschwerpunkt ein besonderes Augenmerk auf den westlichen Nachbarn legt, entstand 1996 das Frankreichzentrum. Seitdem initiiert, koordiniert, kommuniziert und dokumentiert es die Fülle frankreichbezogener Aktivitäten aller Fakultäten; seit einiger Zeit engagiert es sich mehr noch als zuvor selbst in der Forschung. Sicherlich gute Gründe, Saarbrücken letztlich den Zuschlag für den Verwaltungssitz der seit 1999 tätigen Deutsch-Französischen Hochschule zu geben. Die Einrichtung wurde 1997 von Deutschland und Frankreich gegründet und wird seither paritätisch finanziert, um deutsch-französische Studiengänge und Promotionsprogramme zu initiieren und evaluieren sowie finanziell zu fördern.7
Institutionell wie ideell lassen sich zahlreiche Kontinuitätslinien von den Anfängen der Saar-Universität bis in die Gegenwart ziehen. Das 1955 gegründete und von Angelloz initiierte „Centre d’Etudes Juridiques Françaises“ wurde 1995 zum „Centre Juridique Franco-Allemand“ und bietet einen binationalen Abschluss, der noch heute seinesgleichen sucht. Weiteres Beispiel ist das Europa-Institut: 2021 feierte es sein 70-jähriges Jubiläum und wusste von bislang 5.500 Absolventinnen und Absolventen sowie aktuell 75 Studierenden pro Jahr aus mehr als dreißig Ländern zu berichten. Die kulturwissenschaftliche Ausrichtung wich einem rechtswissenschaftlichen Fokus, doch die ideelle Ausrichtung – begeisterte Europäerinnen und Europäer heranzubilden, – erinnert weiterhin an Angelloz Gründungsvision.8
Melanie Bardian / Dietmar Hüser
- SZ, 7.11.1950 (Zitat Angelloz); Burg, Projekt, S. 205 (Zitat Bindeglied); Saarländische Volkszeitung, 12.11.1952; Burg, Projekt, S. 207 (Zitat Krone und Symbol); Heinen, Sachzwänge, S. 58 und 34 (hier auch Zitate Grandval und Hoffmann).
- SZ, 7.11.1950 (Zitat); Hamburger Anzeiger, 16.5.1953; The New York Herald Tribune, 18.1.1954 (Zitat); Journal de Genève, 3.10.1951; Die Zeit, 9.12.1954 (Zitat); Heinen, Sachzwänge, S. 21.
- Saarländische Volkszeitung, 25.8.1950; Burg, Projekt, S. 202f., 212 und 213.
- Heinen, Sachzwänge, S. 51 u. 21; Burg, Projekt, S. 208 u. 212; Heinen, Sachzwänge, S. 42 und 53 – 55; Linsmayer, Gründervisionen, S. 33 (Zitat).
- Giegerich/Bungenberg, Europa-Institut, S. 7 (Zitat Propagandazentrale); FAZ, 2.2.1956; SZ, 18.4.1956 (Zitat Versöhnung); Deutsche Saar, 27.4.1956 (Zitat Produkt); SZ, 7.2.1956.
- Müller, Brücke, S. 241; SZ, 26.1.1957; Saarbrücker Volkszeitung, 28.3.1957 (Zitat Gastprofessoren).
- Speculum 12 (1966), Nr. 2, S.10f.; SZ, 9.4.1965; Faillard, Bilanz; FAZ, 11.12.1986 (Zitat); Müller, Brücke, S. 243; Hüser, Vorwort 2017, S. 5.
- Müller, Brücke, S. 240; Giegerich/Bungenberg, Europa-Institut, S. 9f.