Polyxenasarkophag
Abgeschlossenes Projekt (gefördert vom Deutschen Archäologischen Institut Berlin)
Der spätarchaische Polyxenasarkophag. Antike Plastik Bd. 32 (2022) 1-143 Taf. 1-40, 2 Falttafeln.
Der spätarchaische Reliefsarkophag eines jungen Mädchens, ein singuläres Bildwerk ostionischer Kunst .
Im Jahr 1994 gelang es der türkischen Antikenverwaltung, den Raub eines spektakulären Antikenfundes zu vereiteln. Im Nordwesten der Türkei bei Gümüşçay, einer Ortschaft unweit der Propontisküste, hatte man in einer illegalen, größer angelegten Grabungsaktion einen ansehnlichen Grabtumulus geöffnet und war auf das Dach der dort beigesetzten Grablege gestoßen. Das regional zuständige Museum von Çanakkale konnte die kriminellen Aktivitäten rechtzeitig stoppen. Es leitete eine professionelle Ausgrabung ein und legte einen monumentalen, reich reliefierten Marmorsarkophag frei. Er befand sich in situ, war allerdings bereits in der Antike ausgeplündert worden.
Nach einer kurzen Vorabpublikation, in der die Ausgräberin Nurten Sevinç den Sarkophag chronologisch einordnete und das Mythenbild auf seiner einen Langseite überzeugend als Opferung der trojanischen Prinzessin Polyxena identifizierte, figurierte das Monument fortan in der Fachliteratur unter dem Namen ›Polyxenasarkophag‹.Eine grundlegende monographische Untersuchung dieses ältesten griechischen Bildsarkophages fehlte bislang, ebenso wie eine ausführliche Materialvorlage und Fotodokumentation. Auf beides zielt das Forschungsprojekt.
Der monumentale, gut erhaltene Marmorsarkophag entstand um 500 v. Chr. und war nach Ausweis des Bildschmuckes für ein junges Mädchen konzipiert. Bestattet war darin allerdings ein ca. vierzigjähriger Mann, eine offenbar unplanmäßige Belegung. Dafür spricht auch die Unfertigkeit des Sarkophages: einige Figurenteile sind nicht ausgearbeitet, die Giebel und Akrotere blieben völlig roh, die rückwärtige Dachfläche ist nur bossiert angelegt. Außerdem fehlte eine regelrechte Grabkammer. Stattdessen war der Sarkophag bis zum Dachrand mit schräg angelehnten Dachziegeln eingehaust. Der Abbruch der Arbeiten erfolgte jedoch nicht abrupt und unkontrolliert. Man versah den Sarkophag mit einem Finish, glättete selbst die unvollendete linke Schmalseite und trug auf der Vorderseite eine punktuelle Bemalung auf.
Der Aufbau des Sarkophages orientiert sich am ionischen Tempel, der Dachdeckel ist mit der entsprechenden Architekturornamentik versehen, der umlaufende fast 8 m lange Relieffries wird von einer zweistufigen ›Krepis‹ und einem ›Faszienarchitrav‹ eingefasst. Damit stellt der Sarkophag ein frühes, einzig vollständig erhaltenes Beispiel kleinasiatisch ionischer Architekturornamentik dar und einen Beleg für die Entstehung des Zahnschnittes in Ostionien.
Der Relieffries zeigt Lebens- und Mythenbilder in bekannten, aber auch singulären Ikonographien. Auf der Vorderseite sitzt die Verstorbene bräutlich geschmückt auf einem aufwändigen Thron und empfängt in einer zeremoniellen Aufwartung die Reverenz, die man einer Braut erwies. Die Vorstellung der Hochzeit setzt sich in der Brautkammerszene auf rechten Schmalseite fort. Prospektiv wird der jungen Verstorbenen hier im Bild erfüllt, was ihr im Leben versagt blieb. Retrospektiv schildert dagegen die rechte Hälfte des Vorderseitenfrieses das Leben der jungen Toten. Gesellschaftlicher Status und Rolle werden im Bild einer von Flöten- und Kitharaspiel geleiteten Prozession vor Augen geführt, die sich anhand der inkorporierten Waffentänzerinnen eindeutig im Mädchenkult der Artemis mit seinen Initiationsriten verorten läßt. Der Rückseitenfries des Sarkophages stellt die Opferung der trojanischen Prinzessin Polyxena durch Neoptolemos am Grab des Achill dar. Dem Tötungsakt wohnt klagend ein Zug von trauernden Trojanerinnen und Trojanern bei, der sich auf der zugehörigen Schmalseite fortsetzt.
So entfaltet der Sarkophag ein komplexes Tableau visueller Botschaften. Jede Langseite bildet mit der rechts anschließenden Schmalseite eine inhaltliche Einheit. In facettenreichen Bildern werden die beiden Pole Leben und Tod thematisiert: das Leben mit seinen sozialen und kultischen Implikationen auf der Vorderseite, der Tod mit den kultischen und sozialen Konsequenzen, vor allem den emotionalen Erschütterungen,Trauer und Schrecken, auf der Rückseite.
Eine eingehende komparative Formanalyse sucht die Datierung des Sarkophags um 500 v. Chr. zu begründen und zu präzisieren. Zugleich ermöglicht sie eine landschaftliche Zuordnung der Bildhauer und eine eingrenzende Lokalisierung infrage kommender Werkstätten. Der Sarkophag, dessen Marmor von der Insel Prokonnesos stammt, wurde zwar in dieser Region an der Festlandküste oder am wenig entfernten Begräbnisplatz selbst geschaffen, allerdings nicht von lokalen oder regional einheimischen Bildhauern. Nach dem Stil und der Ikonographie der Friese kamen die Künstler – zwei führende Kräfte lassen sich sicher unterscheiden - aus Ionien. Die Bildanalyse gibt nicht zuletzt Aufschlüsse über Kompositionsprinzipien und Werkverfahren.
Die ikonographische Analyse der Relieffriese läßt, anknüpfend an frühere Forschungen der Bearbeiterin, zum einen singuläre Darstellungen entschlüsseln, Bildinhalte auslesen und diese einer schlüssigen Gesamtinterpretation zuführen. Zum anderen lassen sich einzelne Komponenten der Darstellungen als jeweils orientalische, ägyptische, ostionische oder attische Bildmuster isolieren und die Adaptionen bzw. Transformationen konkret benennen.
Der Sarkophag steht sichtlich im Spannungsfeld östlicher und westlicher Kulturen und erweitert auch als qualitativ exponiertes Zeugnis ionischer Plastik unsere Kenntnisse über die Kunst an der anatolischen Westküste entscheidend. Er vermittelt erstmals eine ganzheitliche Vorstellung von einem ionischen Skulpturenwerk der Jahrhundertwende und zeigt die ganze Breite ionischen Stils und ionischer visueller Erzählkunst.
Essentielle Beiträge zum Sarkophag (Datierung und Stil):
F. Çevirici, Polyksena Lahdi’nin Stilistik Açıdan Değerlendirilmesi, Arkeoloji Dergirsi X, 2007, 2, 69–92. – F. Croissant, Observations sur le sarcophage de Polyxène et les styles de l’Ionie du Nord à la fin de l’archaïsme, RA 2015, 259–292.
Prof. Dr. Carola Reinsberg
Das Projekt war nur durchzuführen dank der Liberalität der türkischen Antikenverwaltung, der Kooperation der Direktoren und Mitarbeiter der Museen in Çanakkale und Troja und nicht zuletzt dank der großen Unterstützung durch türkische Freunde und Kollegen.
Fotos: Aykan Özener