Hintergrund ist ein aktuelles Vorhaben des Bundesjustizministeriums, das das Strafgesetzbuch wie aktuell im Fall der Kinderpornografie modernisieren möchte.
In der ZDF-Berichterstattung zur Überarbeitung des „Kinderpornografie-Gesetzes“ (Link zum Beitrag) wird ein eindrücklicher Fall aus der strafrechtlichen Praxis genannt: Eine besorgte Mutter, deren Kind ihr kinderpornografische Fotomontagen im Klassenchat zeigt, leitet die Fotos an die Klassenlehrer weiter – und wird damit selber zur Straftäterin. „Die Mutter wird verhört, ihr Handy beschlagnahmt“, so der Bericht. Dabei wollte die Mutter ja lediglich auf die Bilder aufmerksam machen, intervenieren, da sie ihr Kind gefährdet sah. Dass sie mit der – gut gemeinten – Weiterleitung selbst eine Straftat begeht, war ihr nicht bewusst.
Wegen solcher Fälle, deren Zahl laut dem Medienbericht in die Zehntausende geht, ist das so genannte „Kinderpornografie-Gesetz“ eine von mehreren Normen im Strafgesetzbuch (StGB), die das Justizministerium in einem Eckpunktepapier auflistet und die es modernisieren möchte. „In dem Wunsch, die Kinderpornografie möglichst effektiv zu bekämpfen, kann es eben auch passieren, dass man über das Ziel hinausschießt und gegebenenfalls Handlungen kriminalisiert, die eigentlich der Aufklärung derartiger Straftaten dienen könnten; eine ähnliche Situation ergibt sich, wenn Sie Ihrem Kind Drogen wegnehmen, um diese anschließend zu entsorgen“, so Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Medizinstrafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität des Saarlandes.
Derartige Beispiele machten deutlich, dass eine möglichst umfassende Kriminalisierung von Handlungen oft zu ungerechten Ergebnissen führen kann, so der Rechtswissenschaftler. „Manche Straftatbestände sind einfach zu weit gefasst, andere vollkommen aus der Zeit gefallen.“ Als Beispiele hierfür nennt der Strafrechtler etwa den Scheckkartenbetrug oder den „Straßenraub mittels Autofallen“, die ebenfalls in dem Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums auftauchen.
Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu unterstützt das Vorhaben des Bundesjustizministeriums ausdrücklich. Aber: „Immer, wenn wir Strafrechtler in den vergangenen Jahrzehnten gehört haben, dass das Strafgesetzbuch ‚modernisiert‘ werden solle, gingen bei uns die Alarmglocken an. Denn im Grunde genommen hat ‚Modernisierung‘ bisher meist bedeutet, dass neue Straftatbestände hinzugekommen sind oder bestehende Tatbestände verschärft wurden. Das Strafgesetzbuch wurde nach solchen ‚Modernisierungen‘ einfach immer dicker und dicker“, so der Rechtswissenschaftler.
Irgendwann sieht es dann aus wie im Zimmer eines Teenagers, der es mit dem Aufräumen nicht so genau nimmt. Überall liegen alte Sachen herum, die niemand mehr braucht, und keiner blickt mehr durch, was überhaupt noch nützlich ist und was nicht. Und wie in fast jedem Teenager-Zimmer finden sich Sachen, die die Eltern gar nicht lustig finden und sich fragen, auf welchen Pfaden der Nachwuchs bloß wandelt.
Im Strafgesetzbuch trifft dies zum Beispiel auf jenen § 316a StGB zu, dessen Vorgängerregelung das Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22.6.1938 darstellt, dessen Mindeststrafe demjenigen eines vorsätzlichen Totschlags entspricht. „Eine angesichts der von der Vorschrift erfassten Fälle geradezu absurde Strafandrohung“, so Strafrechtler Oğlakcıoğlu. Auch die Paragrafen für Mord und Totschlag aufgrund ihres historischen Hintergrunds mindestens sprachlich missglückt: „Die dort aufzufindenden Wendungen beruhen auf der nationalsozialistischen Vorstellung, dass es bestimmte ‚Tätertypen‘ gibt“, so Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu dazu. „Wir bestrafen aber nicht jemanden, der einen Menschen umgebracht hat, weil er eine lange Nase oder weit auseinanderstehende Augen hat. In unserem Rechtsstaat bestrafen wir die Tat“, erläutert der Rechtswissenschaftler dieses historisch brisante Beispiel. Dass die Normen heute noch sprachlich in derselben Form wie zur Zeit ihrer Entstehung im Strafgesetzbuch stehen, hält das Justizministerium für überarbeitungswürdig. Die Rechtslage soll damit ausdrücklich nicht geändert werden.
„Das Ziel der Politik, eine echte Modernisierung des Strafrechts auf den Weg zu bringen, unterstützen wir ausdrücklich“, nimmt Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu Stellung zu dem Vorhaben. „Ich bin jedoch skeptisch, dass es am Ende auch tatsächlich so kommt. Es gibt zu viele Interessen, und nicht zuletzt die öffentliche Meinung hat oft einen sachlich nicht gerechtfertigten Niederschlag auf solche Vorhaben.“
Deutlich wird dies bereits am Beispiel des Tatbestands „Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“, vulgo Fahrerflucht, der zunächst abgeschafft werden sollte. Da dies bereits einige mediale Erregungswellen ausgelöst hat, entschied man sich nunmehr dazu, die Strafbarkeit aufrechtzuerhalten, aber die Möglichkeiten einer Meldung des Unfalls zu modernisieren. „Aber wir sollten uns vor Augen halten, dass das Strafrecht das schärfste Schwert ist, das wir im Rechtsstaat haben“, betont Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu. „Ein Schwarzfahrer wird nach denselben Regeln verurteilt wie jemand, der einen Menschen getötet hat“, so der Jurist weiter. „Es ist die Ultima Ratio. Auch für die Beschuldigten bedeutet es einen immensen Druck, wenn nach einem Blechschaden oder nach dem Schwarzfahren die Polizei bei einem vor der Tür steht und sie als Beschuldigter im Strafverfahren verfolgt werden“, mahnt der Rechtswissenschaftler.
Ob der „große Wurf“, den sich Strafrechtler wie Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu erhoffen, letzten Endes auch tatsächlich kommt, bleibt abzuwarten. Der Professor und sein Team werden in den kommenden Monaten weiter akribisch das Strafgesetzbuch durchforsten und in den einschlägigen Kommentierungen dazu nach Paragrafen suchen, die einer Reform oder Abschaffung bedürfen. Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu ist zuversichtlich, dass er neben denjenigen Paragrafen des StGB, die im Eckpunktepapier des Justizministeriums auftauchen, noch weitere finden wird.
Weitere Infos finden Sie hier.