Sylvi Siebler
Dissertationsprojekt / DFG-Forschungsprojekt
Der Alltag der Revolte – Die Transnationalität französischer und westdeutscher Landkommunen, ca. 1965-1985
„Anders leben, anders arbeiten“ war das Ziel vieler junger Menschen, die sich in den 1960er-Jahren sowohl in den USA als auch in Europa in Wohnprojekten zusammenschlossen, um mit alternativen Lebensformen im Alltag zu experimentieren. Diese Kommunen und Wohnkollektive entstanden nicht nur in studentisch geprägten Großstädten, sondern auch ländliche Regionen wurden zum Aushandlungsort von Gesellschaftskritik und gelebten Utopien. Hier setzt das Dissertationsprojekt an und untersucht die westeuropäische Landkommunen-Szene im Zeitraum von ca. 1965 bis 1985 am Beispiel der Länder Westdeutschland und Frankreich. Landkommunen werden dabei als Lebens- und Arbeitsgemeinschaften in ländlichen Gebieten und Kleinstädten verstanden.
Um das Phänomen in seiner Vielgestaltigkeit darzustellen, werden zunächst die Motivation, die Organisation und die ‚Experimentierfelder‘ der Landkommunard:innen in den Blick genommen. Auf Grundlage von schriftlichen Erzeugnissen des Alternativmilieus (Alternativzeitungen, Buchpublikationen, Reiseberichte) sowie Interviews mit (ehemaligen) Mitgliedern von Landkommunen wird untersucht, welche Ziele mit der neuen Lebensform verfolgt wurden, wie diese erreicht werden sollten und wie der Alltag durch die Auflösung der Trennung von Freizeit und Arbeit gestaltet wurde. Experimentiert wurde beispielsweise mit der Auflösung der Kleinfamilie, mit neuen Arbeits- und Produktionsbedingungen zur Schaffung einer alternativen Ökonomie sowie der Selbstversorgung in unterschiedlichen Bereichen (Lebensmittel, Kleidung, Energie, …).
In einem weiteren Schritt soll die Perspektive der breiten Bevölkerung auf die Landkommunen durch die Sichtung von Tages- und Wochenzeitungen, Zeitschriften, Rundfunkbeiträgen und behördlichen Unterlagen analysiert werden. Sowohl in Westdeutschland als auch in Frankreich wurden die Landkommunard:innen als „Aussteiger“, „Leistungsverweigerer“ und „Drogenkonsumenten“ diffamiert und so das Bild von Landkommunen als Phänomen von Randständigen gezeichnet.
Die Betrachtung von Landkommunen als transnationales Phänomen – die ersten ‚Hippie-Kommunen‘ der 1960er-Jahre entstanden in den USA und wurden in Westeuropa adaptiert – soll abschließend den Fragen nachgehen, inwiefern Ideen und Personen aus den französischen und deutschen Landkommunen über Grenzen hinweg zirkulierten, ob von einer spezifisch westeuropäischen Landkommunen-Bewegung gesprochen werden kann und welche internationalen Einflüsse – beispielsweise aus der Schweiz, den USA und Indien – das Leben in Landkommunen in Frankreich und Westdeutschland prägten. Miteinbezogen werden dabei auch Landkommunen, die selbst transnational agierten: Vorwiegend Deutschsprachige gründeten die Gemeinschaft Longo maï in Südfrankreich und auch die Toskana und Umbrien wurden zum Rückzugsort von deutschen Kommunard:innen. Schließlich zeugen eine Reihe von Erfahrungsberichten von jungen Menschen, die Kommunen in den USA und Dänemark besuchten, von der Suche nach Alternativen jenseits der eigenen nationalen Zugehörigkeit.