Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Entstehung und dem Verlauf eines Schlaganfalls

Viele neurodegenerative Erkrankungen, aber auch akute Schädigungen wie der Schlaganfall, sind geschlechtsspezifisch. Bei der Multiplen Sklerose (MS), einer der häufigsten erworbenen Erkrankungen des zentralen Nervensystems bei jungen Erwachsenen, überwiegen erkrankte Frauen. Das Geschlecht der Patienten beeinflusst zahlreiche Aspekte der MS, darunter Inzidenz, Ausprägung, Aktivität, Prognose, Komorbiditäten und Behandlungsergebnisse. In Bezug auf Schlaganfälle ist bekannt, dass Frauen ebenfalls eine höhere Sterblichkeitsrate und eine schlechtere Hirnfunktionalität im Vergleich zu Männern haben. Beim Schlaganfall könnte dies zum Teil auf Fehldiagnosen zurückzuführen sein, die zu einer Verzögerung der Akutbehandlung oder Sekundärprävention führen, vergleichbar mit der Diagnose und Behandlung von Herzinfarkten bei Männern und Frauen.

Mikroglia, die vor fast 100 Jahren zum ersten Mal erwähnt wurden, sind an der Entstehung und/oder Aufrechterhaltung der meisten Pathologien des zentralen Nervensystems beteiligt und daher ein wichtiger Zelltyp, der bei allen Arten von Traumata oder Krankheiten einbezogen werden sollte. Seit ihrer Entdeckung wurden sie als eine besondere Art von Gehirnzellen betrachtet, da sie sehr früh in der Entwicklung in das Gehirn einwandern und dort nicht wie Neuronen und Makroglia gebildet werden. Mikroglia haben viele wichtige Funktionen in der Physiologie sowie in der akuten und chronischen Pathologie. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Genexpression und Funktion der Mikroglia wurden über die gesamte Lebensspanne hinweg festgestellt und spielen eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der Gehirnfunktion und des Verhaltens. Der Gehalt an Sexualhormonen variiert in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht. Mikroglia sind in der Lage, direkt und indirekt auf Veränderungen des Hormonspiegels zu reagieren, indem sie die transkriptionelle Genexpression, Morphologie und Funktion verändern.

In einer kürzlich durchgeführten Studie konnten wir zeigen, dass nach einer akuten Hirnverletzung mit Blutung eine Reprogrammierung von Oligodendrozyten ausgelöst werden kann, obwohl es sich um terminal differenzierte Zellen handelt. Durch den Einsatz verschiedener transgener Mauslinien mit transienter Expression von fluoreszenten Proteinen oder mit Hilfe des Cre/LoxP-Systems konnten wir zeigen, dass diese de-differenzierten Oligodendrozyten einen Zelltyp bilden, der sowohl astrogliale  als auch oligodendrogliale Eigenschaften aufweist, daher nannten wir diese Zellen AO-Zellen. Wir konnten auch bestätigen, dass diese AO-Zellen auch in Wildtyp-Mäusen vorkommen, durch Analyse der RNA-Expression. Fate-Mapping mittels Zwei-Photonen-Laser-Scanning-Mikroskopie (fluoreszierende Reportermäuse) oder die Verwendung des Split/Cre-Systems mit astroglialer und oligodendroglialer Expression der Cre-Fragmente zeigten die bipotente Fähigkeit der AO-Zellen entweder zu Oligodendroglia (Oligodendrozyten und Oligodendrozyten-Vorläuferzellen) oder zu Astroglia zu differenziere. Wir konnten auch zeigen, dass AO-Zellen durch das Zytokin Interleukin-6 (IL-6) induziert werden, das von aktivierten Mikroglia nach einer akuten Verletzung freigesetzt wird. Zusammenfassend unterstreichen unsere Ergebnisse das plastische Potential der Oligodendrozyten bei akutem Hirntrauma durch das von Mikroglia freigesetzte IL-6, sowohl nach einer akutem Verletzung aber auch nach einem kleinen (Unterbrechung der Pialgefäße) oder großen (Verschluss der mittleren Hirnarterie) Schlaganfall.

Kombiniert man nun die Erkenntnisse, dass:

  1. Frauen bei einem Schlaganfall eine höhere Sterblichkeitsrate und schlechtere Behandlungs­ergebnisse haben als Männer,
  2. bei MS, einer Erkrankung, bei der die Oligodendrozyten ihre Funktion verlieren, Frauen ebenfalls häufiger betroffen sind als Männer und
  3. Mikroglia der neuronale Zelltyp sind, der am stärksten vom Geschlecht beeinflusst wird,

stellt sich die Frage, ob die Induktion von AO-Zellen aus Oligodendrozyten geschlechtsabhängig ist und sich damit die Folgen eines Schlaganfalles aufgrund einer unterschiedlichen Anzahl von AO-Zellen nach der primären Schädigung unterscheiden könnten.

Ein grundlegendes Verständnis der geschlechtsspezifischen Unterschiede nach kleinen aber auch großen Verletzungen (PVD, MCAO) wird wichtige Einblicke in die Pathophysiologie mit primären und sekundären Effekten, dem weiteren Krankheitsverlauf und mögliche Behandlungsziele nach akutem Traumata liefern.

Projektleitung

Dr. rer. nat. Anja Scheller

Universität des Saarlandes
Molekularphysiologie (CIPMM)

anja.scheller(at)uks.eu
ORCID: 0000-0001-8955-2634

Curriculum Vitae

 

Wichtige Publikationen

  1. Bai X, Saab AS, Huang W, Hoberg IK, Kirchhoff F, Scheller A (2013) Genetic background affects human glial fibrillary acidic protein promoter activity. PLoS One 8:e66873.
  2. Bai X, Zhao N, Koupourtidou C, Fang LP, Schwarz V, Caudal LC, Zhao R, Hirrlinger J, Walz W, Bian S, Huang W, Ninkovic J, Kirchhoff F, Scheller A (2023) In the mouse cortex, oligodendrocytes regain a plastic capacity, transforming into astrocytes after acute injury. Dev Cell 58:1153-1169.e1155.
  3. Hirrlinger PG*, Scheller A*, Braun C, Quintela-Schneider M, Fuss B, Hirrlinger J, Kirchhoff F (2005) Expression of reef coral fluorescent proteins in the central nervous system of transgenic mice. Mol Cell Neurosci 30:291-303.
  4. Huang W, Bai X, Meyer E, Scheller A (2020) Acute brain injuries trigger microglia as an additional source of the proteoglycan NG2. Acta Neuropathol Commun 8:146.
  5. Jahn HM, Kasakow CV, Helfer A, Michely J, Verkhratsky A, Maurer HH, Scheller A, Kirchhoff F (2018) Refined protocols of tamoxifen injection for inducible DNA recombination in mouse astroglia. Sci Rep 8:5913.
  6. Katz E*, Stoler O*, Scheller A*, Khrapunsky Y, Goebbels S, Kirchhoff F, Gutnick MJ, Wolf F, Fleidervish IA (2018) Role of sodium channel subtype in action potential generation by neocortical pyramidal neurons. Proc Natl Acad Sci U S A.
  7. Rieder P, Gobbo D, Stopper G, Welle A, Damo E, Kirchhoff F, Scheller A (2022) Astrocytes and Microglia Exhibit  Cell-Specific Ca2+ Signaling Dynamics in the Murine Spinal Cord. Front Mol Neurosci 15:840948.
  8. Schnell C, Negm M, Driehaus J, Scheller A, Hülsmann S (2015) Norepinephrine-induced calcium signaling in astrocytes in the respiratory network of the ventrolateral medulla. Respir Physiol Neurobiol.
  9. Zhao N, Huang W, Cătălin B, Scheller A, Kirchhoff F (2021) L-type Ca2+ channels of NG2-glia determine proliferation and NMDA receptor-dependent plasticity. In. Front. Cell Dev. Biol.