Zur Bedeutung des Verlusts der Heimat – Musik und ihre Performanz von zwei ostpreußischen Vertriebenen
Josephina Strößner (Universität Mozarteum Salzburg)
Millionen von Menschen waren während und in Folge des Zweiten Weltkriegs gezwungen ihre (Geburts-)Heimat Ostpreußen gen Westen zu verlassen. Ihre Ankunft im damaligen Nachkriegsdeutschland war größtenteils von Ablehnung und Misstrauen seitens der Einheimischen gekennzeichnet. Im Fokus der Forschung stehen Vertriebene und Geflüchtete aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, da sie bislang als eine noch zu wenig beachtete, sogar tabuisierte Gruppe bei der gesellschaftlichen Neuausrichtung von der nationalsozialistischen Diktatur in die Demokratie der Bundesrepublik und das totalitäre System der DDR betrachtet werden. Explizit sind es Zeitzeug*innen aus Ostpreußen, da die geografische Lage des ehemaligen deutschen Gebiets das erste ‚Einfallsgebiet‘ für die Sowjetarmee bedeutete, sodass hier die Konfrontation mit dem Kriegsgegner zuerst stattfand. Musik und ihre Performanz haben durch ihre möglichen sozialen, integrativen wie segregativen Funktionen und Wirkungen einen erheblichen Anteil an gesellschaftlichem Wandel. Dies trifft in besonderer Weise auf die Extremform, den Verlust der Heimat und seine Verarbeitung in und durch Musik, zu.
Die im Vortrag präsentierten Erkenntnisse entstehen im Rahmen meines Dissertationsprojekts, das sich zum einen mit der Frage beschäftigt, ob und inwiefern sich die sogenannten Neubürger*innen und Einheimische innerhalb der gesellschaftlichen Transformation in einer von Zivilisationsbruch, Heimatverlust und Neuanfang geprägten Zeitspanne über Musik begegneten. Zum anderen wird untersucht, was die mitgeführte Musik und Musizierpraktiken der Ostpreuß*innen und die der Kernbevölkerung zur jeweiligen Ausformung eines neuen politischen Systems sowie zum Vergesellschaftungsprozess beitrugen.
In meinem Vortrag hinterfrage und diskutiere ich an konkreten Beispielen der Erinnerungen und Erfahrungen zweier ostpreußischer Vertriebener, inwiefern sich der Umgang mit dem Verlust der Heimat durch Musik und ihre Performanz sowie einen musikalischen Gebrauch äußerte. Die in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR aufgewachsenen Zeitzeugen befragte ich beispielsweise bezüglich ihres Verhältnisses zu Musik in verschiedenen Lebensphasen mithilfe der Methode der Oral History sowie der interdisziplinären Ergänzung durch den Aspekt der Performanz.
Josephina Strößner studierte die Fächer Musik und Französisch für das Lehramt an Gymnasien an der Hochschule für Musik und Theater Rostock sowie der Universität Rostock (2014-2020). Im Winter 2017 absolvierte sie über das Erasmus-Programm ein Auslandssemester in Frankreich am Pôle Aliénor und der Université de Poitiers. Im Anschluss an das Erste Staatsexamen begann sie im Dezember 2020 ihre Promotion bei Frau Prof. Dr. phil. habil. Yvonne Wasserloos zum Thema „Musikkulturen in der doppelten Transformationsgesellschaft. Zur Rolle ostpreußischer Vertriebener in Deutschland 1943 bis 1961“ zunächst an der hmt Rostock und seit Oktober 2022 an der Universität Mozarteum Salzburg. Die Zweitbetreuung des Dissertationsprojektes hat Frau Prof. Dr. phil. habil. Sabine Mecking (Philipps-Universität Marburg) inne.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Themenkomplex von Musik, Gesellschaft und Politik sowie musikalische Erinnerungskulturen.