Sangspruch hören: Zum multidimensionalen Rezeptionsmodus des Hörens in mittelhochdeutscher Lyrik

Philip Wetzler (Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena)

Innerhalb der Überlieferung mittelhochdeutscher Lyrik nimmt der Sangspruch eine besondere Rolle ein: Die Jenaer Liederhandschrift überliefert rund 75 seiner Melodien, bevor die Tradition der Meistersinger sich diese aneignet. Jüngere germanistische Fallstudien richten ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf Klangaspekte und Formexperimente nicht nur im Minnesang, sondern auch im Sangspruch. Die Melodien als genuin musikalisches Medium, ihre Funktion im Sinne einer Aufmerksamkeitsverschiebung sowie das Zusammenspiel von Rhythmus, Sprachklang, Metrik, Reim, Semantik und melodischer Faktur hingegen harren noch einer Untersuchung.
Es deutet sich an, dass Hören im Mittelalter nicht nur als multisensorisches Phänomen inszeniert wurde, sondern im mittelhochdeutschen Sangspruch als multidimensionales Wahrnehmungsphänomen aufgegriffen wird. Klingendes und damit Hörbares findet auf den Ebenen von Reim und Wortklang, Sprachrhythmen und Melodie gleichzeitig statt. Einen Teil dessen spiegelt die Überlieferung in ihrer Melodienotation sowie Interpunktion. Hiervon ausgehend wird der Vortrag explorativ danach fragen, was es im Sangspruch überhaupt Hörbares gibt, auf welchen Ebenen und wie diese interagieren – unter besonderer Berücksichtigung der überlieferten Musiknotation. Anhand ausgewählter Strophen können Aspekte wie das Zusammenspiel von Sprachklangexperiment, Rhythmik der Sprache und Melodik sowie anaphorische Strukturen beleuchtet werden. Deren semantisches Potential zeigt sich besonders, wenn im klingenden Medium des Gesangs Auseinandersetzungen mit den Aporien christlicher Klangvorstellungen vollzogen werden; wenn etwa das wortsprachlich schwer Fassbare oder Unsagbare im Klang gesucht wurde.

 

Philip Wetzler, Doktorand am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Er absolvierte zuvor ein Kontrabassstudium an der Hochschule für Musik und Theater Rostock, studierte für das gymnasiale Lehramt Musik, Mathematik und Politikwissenschaft an der Universität Kassel und schloss das Lehramtsstudium in Stuttgart ab. Weitere Masterstudien in Musikwissenschaft folgten an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, Universität Stuttgart und Universität Tübingen. Sein Dissertationsprojekt widmet sich der Musik des mittelhochdeutschen Sangspruchs.