Mythos als Ritual: Darius Milhauds "La création du monde" als kompositorischer Reflex einer anthropologischen Diskussion

Dr. Esma Cerkovnik (Musikwissenschaftliches Institut der Universität Zürich)

Die Geisteswissenschaften hatten lange ein Henne-Ei-Problem: Was war zuerst – der Mythos oder das Ritual? In ihrer Studie zum Ritual gibt Barbara Stollberg-Rilinger einen Überblick von Interpretationen der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Mythos und Ritual und konzentriert sich dabei auf einen Konflikt zwischen den Altertumswissenschaften und der Kulturanthropologie in ihrer Suche nach dem Primären. Sie schlägt jedoch vor, dass Mythos und Ritual in einem sehr engen Verhältnis stehen und sich daher gegenseitig bedingen. Beide können als Verkörperungen des kollektiven Gedächtnisses gelten, weswegen die Frage nach dem Primat des einen oder anderen gegenstandslos ist. Wie eine Präfiguration dieser These mutet Darius Milhauds Ballett »La création du monde« von 1923 an. Denn es geht dort um die Wechselbeziehung zwischen dem in dem Werk dargestellten afrikanischen Schöpfungsmythos und seiner rituellen Verkörperung in und durch Musik. Das Ballett beruht auf der »Anthologie nègre« (1921) von Blaise Cendrars, einer Sammlung, die Milhaud später nochmals für sein op. 113 (»Deux poèmes«, 1932) verwendet hat. Der Mythos wird im Ballett nicht im Ritual, sondern selbst als Ritual dargestellt. Darauf bezog sich auch der Schriftsteller Paul Morand in einem Brief an Milhaud: »Non du chaos, le rythme tourne avec la puissante lenteur d’une incantation, autour de l’union première et s’élève jusqu’à la plus haute poésie cosmique. C’est le grand Oeuf de fécondité qui se brise et la matière qui se délivre.« In diesem Beitrag soll die vorsätzliche Überblendung von Mythos und Ritual durch Musik und Bewegung untersucht werden, ein Ansatz, der später auch die Schriften von Carl Jung oder Ernst Cassirer prägen sollte.

 

Esma Cerkovnik studierte Musikwissenschaft und Querflöte an der Musikakademie der Universität in Sarajevo. Im Juli 2019 promovierte sie am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich (gefördert durch Schweizerisches ESKAS Bundesstipendium) über Musik und Konversion in Rom in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Fokus: Oper und Oratorium). Seit September 2019 ist sie PostDoc-Kandidatin (zuerst gefördert durch FAN) und seit März 2020 Assistentin am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich am Lehrstuhl von Prof. Dr. Laurenz Lütteken.