Kunst

„Sitzende“ und „Lesende“

Kaum ein anderes Kunstwerk auf dem Unicampus ist so wie dieses mitten ins Geschehen gerückt: Am Treppenübergang zum Audimax-Gebäude, wo zu Semesterzeiten täglich hunderte Studierende entlangeilen, schaut seitlich von einem niedrigen Podest aus die „Sitzende“ dem Treiben zu. Die Bronzeplastik ist ein Werk des saarländischen Künstlers Otto Zewe, 1921 in Schiffweiler geboren, der 1973 bereits eine Betonplastik für das Universitätsklinikum in Homburg geschaffen hatte, ein abstraktes Relief, das bis zu seiner Entfernung 2011 als Stützmauer den Außenbereich der Nuklearmedizin (Gebäude 50) schmückte. Von Zewe, der als freischaffender Künstler dem Saarländischen Künstlerbund angehörte, stammen etliche Werke auch im öffentlichen Raum insbesondere des östlichen Saarlands; eine stilistische Verwandtschaft zur „Sitzenden“ findet sich erkennbar etwa in den Bronzefiguren des „Kinderbrunnens“ von 1982 in der St. Ingberter Fußgängerzone.1

Aus dem gleichen Jahr stammt die „Sitzende“ auf dem Saarbrücker Campus. Sie ist nahezu lebensgroß dargestellt und zeigt eine weibliche Figur mit schlanker, recht lebensnah geformter Silhouette, zurückgelehnt und auf die Handflächen aufgestützt, den Kopf nach Süden zum Audimax-Gebäude hingewandt, wie eine entspannte Beobachterin des universitären Geschehens. Sie scheint sich und ihr weich fallendes, sommerliches Kleid, das wie durchnässt wirkt, in der Sonne zu trocknen. Der Ausdruck ihres Gesichts, das von langem, am Hinterkopf zusammengestecktem Haar eingefasst wird, zeigt kaum eine Regung, als ruhe sie mit in die Ferne gerichtetem Blick einfach aus.2

 

Die Skulptur ist unmittelbar neben dem Wasserbecken platziert, das sich zwischen dem Audimax und dem Französischen Platz erstreckt. Zusammen mit dem Springbrunnen und den epflanzungen ist die Szenerie offenbar als eine Art idyllischer Erholungsort gedacht, der zum Ausruhen und Entspannen auffordern soll. Sitzbänke finden sich jedoch in der Nähe nicht, und Studierende wie Lehrende eilen in der Regel vorbei, ohne diesem Appell Beachtung zu schenken. Die Art, in welcher der Körper der jungen Frau den Betrachtenden umstandslos und direkt präsentiert wird, mit geöffneten, spärlich umhüllten Beinen, könnte vor dem Hintergrund gegenwärtiger Kontroversen um Konzepte und Klischees von Weiblichkeit oder Geschlechtlichkeit auch für Irritationen sorgen.

Die Plastik wird oft im Zusammenhang mit der zur gleichen Zeit entstandenen Bronzefigur „Lesende“ von Hans Treitz genannt, die, für die Universitätsbibliothek angefertigt, ebenfalls in Lebensgröße auf einem Steinsockel weit nach hinten gelehnt sitzend, aufmerksam gespannt in einem Buch zu lesen scheint. Die heute hinter dem Bibliotheksgebäude etwas ins Abseits geratene Figur war ursprünglich im Innenhof des Zeitschriftenlesesaals aufgestellt und von Sitzmöglichkeiten umgeben, so dass die Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer eingeladen waren, sich zu ihr ins Freie zu setzen. Im Kontrast zur entspannten Pose der „Sitzenden“ steht bei Treitz’ abstrakter ausgeführter, dynamisch wirkender Figur die Darstellung des intensiven Leseprozesses, der Wissbegierde im Vordergrund.3

Ute E. Flieger / Thilo Offergeld

 

Anmerkungen

  1. Everinghoff, Dokumentation, S. 171; SZ, 13.9.2022.
  2. Czymerska, Sitzende.
  3. Paul, Lesende; Enzweiler, Kunst, S. 133; SZ, 26.7.2022.