Fokus

Der Aufstieg der Informatik

Ein in den 2010er Jahren auf dem Saarbrücker Campus als Flüsterwitz entstandenes Bonmot beschreibt die beiden möglichen Unfallszenarien an der Universität des Saarlandes: Man könne entweder in den Geisteswissenschaften von herabfallenden Gebäudeteilen erschlagen werden oder auf dem Marmor der Informatik ausrutschen und einen Genickbruch erleiden. Ein Zeitgenosse der 1970er und 80er Jahre hätte auf solchen schwarzen Humor wohl mit Unverständnis reagiert, denn damals war weder der massive Verfall der hochmodernen Gebäude C52 und C53 vorhersehbar noch der rasante Aufstieg der im Wintersemester 1970/71 eingerichteten Informatik.

„Saarbrücker Informatik als Vorreiter“, vermeldete stolz die Saarbrücker Zeitung im Sommer 1970, und sie bemühte sich, diese neue Fachdisziplin im Umfeld von Mathematik und Elektrotechnik ihrer Leserschaft näher zu bringen: „Das Fach beschäftigt sich in der Hauptsache mit der Herstellung und dem Einsatz von Elektrorechnern“. Diese praxisnahe Verengung verschleierte ein wenig, dass die Informatik ein Kind der angewandten Mathematik war. Ihre Etablierung in Saarbrücken ist untrennbar mit den Namen der Gründungsväter Johannes Dörr und Günter Hotz verbunden, beide von Hause aus Mathematiker. Sie hatten die Chance genutzt, die sich durch das „Überregionale Forschungsprogramm Informatik“, eine gezielte Förderung des Bundes zur Etablierung des neuen Fachs, eröffnet hatte. Zwar herrschte auf Studierendenseite zunächst noch deutliche Zurückhaltung, was angesichts der „Studentenschwemme“ in anderen Fächern überraschte: „Man könnte es fast als Kuriosum bezeichnen: es gibt tatsächlich Fakultäten, die Studenten suchen!“ Doch dies änderte sich schnell, da die Verbindung von theoretischen und praktischen Ansätzen Studierwillige in steigendem Maß anzog.1

Als die Bundesförderung 1977 auslief und das Land trotz gegebener Zusagen den Ausfall nicht kompensierte, waren die Folgen dramatisch: Der Betreuungsschlüssel und die Wartezeiten auf Diplomthemen verschlechterten sich enorm, die Zulassungszahlen mussten 1980 auf 50 Plätze bei 168 Anmeldungen begrenzt werden, und zwei der fünf Professuren blieben aufgrund der düsteren Zukunftsaussichten unbesetzt. Günter Hotz war – unterstützt durch eine Handvoll Assistenten – zeitweise „last man standing“. 1981 beklagten die beiden frisch berufenen Professoren Kurt Mehlhorn und Reinhard Wilhelm in einem Memorandum an das Kultusministerium die schlechten Ausbildungsbedingungen in einem Fach, in dem die Berufsaussichten für Absolventinnen und Absolventen „unvergleichlich gut“ seien. Auch die Stärkung des Wirtschaftsstandortes spielte hier bereits eine Rolle, denn durch die „Gründung … neuer mittelständischer Unternehmen ergebe sich für das Saarland ‚der Einstieg in einen sehr zukunftsträchtigen Bereich‘“.2

Diese Chancen erkannte dann auch die Landespolitik, denn spätestens 1986/87, als die Professoren Günter Hotz, Kurt Mehlhorn und Wolfgang Paul  mit dem Leibniz-Preis die höchste deutsche Auszeichnung für hervorragende Forschungsleistungen erhielten, war nicht mehr zu übersehen, über welches Potenzial die Saarbrücker Informatik verfügte. Bei seinem Uni-Besuch im Frühjahr 1988 widmete Ministerpräsident Lafontaine laut Bericht des Universitätsorgans „Campus“ seine Aufmerksamkeit vor allem den Informatikern, auch wenn „deren Erläuterungen die Grenze der Allgemeinverständlichkeit weit überschritten“.3

Als beeindruckend wird der junge Landesvater und studierte Physiker die Ausführungen dennoch erlebt haben, denn bald trat ein Effekt ein, den man als „Aufwärtsstrudel“ bezeichnen könnte. In einem ungewöhnlich erfolgreichen Zusammenspiel von bundesweiten Fördermaßnahmen, einer zunehmend die Belange der Informatik unterstützenden Landesregierung und einer Universitätsleitung, die den Ausbau der noch jungen Wissenschaft als Maßnahme der Profilbildung begriff, entwickelte sich die Informatik zu einer ▶ universitären Leit-Disziplin.4

Maßgeblich hierfür war nicht zuletzt die in dieser Konzentration nahezu einzigartige Ansiedlung von außeruniversitären Forschungsinstituten, deren Leitung meist in den Händen von Saarbrücker Universitätsprofessoren lag. Profitierte das „Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz“ (DFKI, 1987) mit seinem am Standort Saarbrücken vornehmlich geisteswissenschaftlich-linguistisch ausgerichteten Profil noch von dem forschungsstarken Umfeld aus Computerlinguistik und Informationswissenschaft, so spielte beim Zuschlag der Max-Planck-Gesellschaft für das „MPI für Informatik“ (1988) die Landespolitik eine große Rolle, da die Fachzuweisung für das nach Länderproporz an der Saar einzurichtende Institut auf ausdrücklichen Wunsch der Landesregierung erfolgte. Auch beim dritten Paukenschlag, der Gründung eines internationalen Begegnungs- und Forschungszentrums für Informatik im nordsaarländischen Schloss Dagstuhl (1989), engagierte sich das Land politisch wie finanziell und kooperierte in dieser Frage aufs Engste mit der Universitätsleitung.5

Das Fach war zwar gegen Ende des Jahrzehnts noch weit entfernt von den Entwicklungshöhen, die zu Beginn des neuen Jahrtausends erklommen wurden, als sogar ein zweites Max-Planck-Institut in der Informatik eingerichtet wurde und der „Campus“ selbstbewusst Saarbrücken zur „Welthauptstadt der Informatik“ ausrief. Doch markieren die 80er Jahre den Zeitraum wichtiger Weichenstellungen, in dem Universität und Land zukunftsweisende Forschungsfelder ausmachten und als wesentliche Faktoren für den Strukturwandel der Stahl- und Kohleregion Saarland aufbauten.6

Der Aufstieg der Informatik, die noch zu Beginn der 80er nur über eine bescheidene Ausstattung an Uni-Mitteln vergleichbar den Kunst- und Altertumswissenschaften verfügte, wurde innerhalb der Saar-Uni anfangs noch mit Wohlwollen begleitet. Dies sollte sich Anfang der 90er Jahre ändern, als Sparmaßnahmen ganze Fächer bedrohten und die Ausrichtung von Forschungskongressen aus Finanzgründen eingeschränkt wurde, während der weitere Ausbau der Informatik erklärtes Ziel der Hochschulleitungen blieb. „Es gibt noch andere Fächer neben der Informatik“, klagte etwa der Romanist Hansjörg Neuschäfer öffentlich 1991 und gab damit dem Spannungsverhältnis zwischen der Informatik und den Geisteswissenschaften Ausdruck, die in der aufstrebenden Disziplin zunehmend eine Bedrohung erkannten. Der Gegensatz von Marmor und Betonbrocken kündigte sich an.7

Thomas Kees

 

Anmerkungen

  1. SZ, 20.7.1970. Zum Gesamtkomplex Wilhelm, Flaggschiff.
  2. SZ, 4.12.1980.
  3. Campus 18 (1988), Nr. 2, S. 5.
  4. Von Homburg nach Europa, 30:57-34:30 Min.
  5. SZ, 28.3.1987 (DFKI); SZ, 8.11.1990 (MPI) und 13.5.1989 (Schloss Dagstuhl); Beschreibungen der Gründungsdirektoren bzw. Beteiligten in 50 Years, S. 30–47.
  6. Campus 34 (2004), Nr. 4, Titelseite.
  7. SZ, 4.7.1991.