Fokus

Massenstudium

Die 1970er Jahre gelten als die Zeit, in der die deutschen Universitäten zu Orten des Massenstudiums wurden. Dabei handelt es sich um ein ambivalentes Phänomen: Während seine negative Seite durch Überfüllung, Anonymität und schlechte Betreuung gekennzeichnet war, bedeutete in gesellschaftlicher Hinsicht die Öffnung der Universitäten für größere Zahlen von Studierenden einen enormen Fortschritt. Denn die Universität war im Europa der Nachkriegszeit zunächst kein Ort, der allen Menschen mit Hochschulreife oder ausreichender Berufserfahrung offenstand, sondern ein Ort sozialer Segregation: Frauen im Allgemeinen, Männer aus Arbeiter- und Mittelstandsfamilien sowie Ausländerinnen und Ausländer sahen sich vor beträchtlichen Hürden, wenn sie ein Studium aufnehmen wollten. Zwar galten an der noch jungen Universität des Saarlandes günstigere Bedingungen: In ihrer europäischen Ausrichtung zeigte sich die Saar-Uni betont offen für internationale Studierende, und als saarländische Landeseinrichtung wandte sie sich stärker als andere Universitäten auch an Angehörige mittlerer und niedriger sozialer Schichten. Dennoch stellten auch im Saarland die Studierenden während der ersten Jahrzehnte nur einen nach heutigen Maßstäben kleinen Teil der Gesamtbevölkerung dar.1

Der Anstieg der Studierendenzahlen folgte an der Saar-Uni eher europäischen als deutschen Mustern. Denn während etwa in Italien und Frankreich die Zahlen bereits in den 1960er Jahren exponentiell angestiegen waren, stellten in der Bundesrepublik erst die 1970er Jahre eine Boomphase der Hochschulöffnung dar, zwischen 1970 und 1982 stiegen die Immatrikulationen von 410.000 auf über 930.000 an. Dagegen hatte die Uni des Saarlandes schon während der 60er Jahre eine Verdoppelung von knapp 4.500 auf rund 8.800 Studierende erlebt; sie wuchs dann nochmals auf über 15.000 Studierende zu Beginn der 80er Jahre. Die Entwicklung hing unter anderem damit zusammen, dass in allen westeuropäischen Staaten Studierende im Zuge der Proteste rund um den Mai 1968 für eine Öffnung und Modernisierung der Hochschulen und für stärkere Partizipation an der Hochschulorganisation gekämpft hatten.2

Das historisch beispiellose Wachstum stellte die Hochschulen vor enorme Herausforderungen und zog für die Studentinnen und Studenten auch an der Saar-Uni nicht nur positive Konsequenzen nach sich: Trotz der Ausbauaktivitäten waren Hörsäle und Seminarräume überfüllt, eine individuelle Betreuung nicht mehr gewährleistet. Dass sich, wie 1971 in der Soziologie, in jedem Seminar sechzig bis siebzig Studierende drängten, war bald auch in anderen Fächern keine Ausnahme mehr, bei den Protestdemonstrationen 1976 war gar von „400 Studenten in einer Übung“ die Rede. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich auch ein zuvor nicht gekanntes Konkurrenzklima: „Studenten ‚prügeln‘ sich um Sitzplätze und Bücher“ titelte die Saarbrücker Zeitung im Herbst 1978. Die Atmosphäre im „Massenfach“ Jura wurde von Professorenseite als „doktrinierte Unkollegialität“ beschrieben. Hinzu kam, dass die Konkurrenz auch auf dem Arbeitsmarkt sprunghaft anwuchs. Und schließlich blieben auch die in den Protesten der 68er-Zeit erkämpften Mitbestimmungsrechte für viele unbefriedigend, zumal sie unter den Verhältnissen einer überfüllten Hochschule kaum effektiv zu handhaben waren.3

 

Auf breiter Front entstanden daher Protestbewegungen gegen die Massenuniversität. Die Studierenden forderten einen dem Größenwachstum der Hochschulen entsprechenden Finanzaufwuchs, doch wurde dies von der Politik spätestens seit den Wirtschaftskrisen der 70er Jahre nicht einmal mehr in Aussicht gestellt. Stattdessen zielten die Ministerien auf eine bessere Bewältigung der Studierendenmenge durch Studienzeitverkürzung, stärkere Studienstrukturierung und vor allem ▶ Zulassungsbeschränkungen. Gerade letzteres, die Begrenzung der Erstsemesterzahlen in stark nachgefragten Fächern durch den berüchtigten „NC“ (Numerus Clausus), stieß bei den Studierenden auf heftige Ablehnung.4

So ergab sich die paradoxe Situation, dass nicht nur die negativen Folgen des Massenstudiums abgelehnt wurden, sondern auch die Maßnahmen, die zu deren Beseitigung dienen sollten. An der Saar-Uni kritisierte bereits 1970 die Philosophische Fakultät etwa Zwischenprüfungen als unnützen Zusatzaufwand, und die Fachschaft Chemie protestierte gegen die Einführung eines Kurzstudiums für die breite Mehrheit der Studierenden, „die als Scheuklappenchemiker für die Industrie ausgebildet werden solle“. 1976 traten 5.000 Studierende in den Streik, um auf die schlechten Lehr- und Lernbedingungen aufmerksam zu machen. In einem Demonstrationszug durch die Saarbrücker Innenstadt sorgten sie mit Sprechchören und Transparenten dafür, dass Überfüllung und Personalmangel keine uni-internen Themen blieben.5

Entstanden waren die beklagten Engpässe trotz eines in den frühen 60er Jahren begonnenen baulichen und personellen Ausbaus der Saar-Universität, der noch Anfang der 70er Jahre den Charakter eines Wettlaufs mit den steigenden Studierendenzahlen hatte. „Saarbrücken wird Großuniversität“, hieß es im November 1970 im „Handelsblatt“. Mitte der 70er Jahre wurde dieser Ausbau dann jedoch drastisch abgebremst. Zuvor hatten zudem Finanzierungsstreitigkeiten zwischen Bund und Land für Verzögerungen gesorgt. Oft handelte es sich bei den Maßnahmen auch um Erweiterungsprojekte für neue Disziplinen wie etwa die Informatik, die den Mangel in den bereits etablierten Fächern kaum lindern konnten.6

Strukturell erwies sich der Weg zur Massenuniversität ebenfalls als schwierig. Sowohl an der Universität als auch im saarländischen Landtag herrschten sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Aktualisierung des Hochschulgesetzes. Streitpunkte waren insbesondere die Mitbestimmungsrechte für Studierende, die Reglementierung des Studienverlaufs und Fragen der Finanzierung.7

So blieben das Massenstudium und die mit ihm verknüpften Streitthemen politischer, organisatorischer und finanzieller Natur auch für die Folgezeit prägend, zumal ▶ die Studierendenzahlen in den 80er und 90er Jahren weiter anstiegen. Mit der Bologna-Reform  wurde Ende der 90er Jahre ein neuer Anlauf zu ihrer Bearbeitung unternommen, ohne dass damit eine endgültige Lösung gefunden worden wäre. Als Erfolg ist jedoch trotz aller fortdauernden Probleme zu verbuchen, dass es der Saar-Uni gelang, sich für eine – in ihren Anfängen unvorstellbar – große Zahl an Studierenden zu öffnen und ein Lehr- wie Lernort für alle zu werden. Ungeachtet wiederkehrender Mittelkürzungen, wie etwa den Sparmaßnahmen von 2014, bietet die Universität des Saarlandes im Jahr ihres Jubiläums rund 17.000 weiblichen, männlichen, diversen, jungen, alten, einheimischen und internationalen Studierenden eine akademische Heimat.8

Jasmin Nicklas

 

Anmerkungen

  1. SZ, 19.10.1968; Maihofer, Universitätsgesetz, S. 390, Schuster, Streiflichter, S. 200.
  2. König, Meinung, S. 28; SZ, 19. und 21.11.1968 (Zitat); Maihofer, Universitätsgesetz, S. 398–400; Abel u. a., Wucht, S. 109.
  3. Verfassung 1969, Art. 5–10 und 20f.; Schuster, Entwicklung, S. 55f.
  4. Schuster, Streiflichter, S. 198–201; Schuster, Modell; Videosequenz: Sellemols, 2:15–3:31 Min.
  5. Universitätsgesetz 1971, bes. §§ 20 und 21; Verfassung 1972; Schuster, Entwicklung, S. 56–68.
  6. Maihofer, Universitätsgesetz; Nachruf 2009; Eichenhofer/Kopp, Maihofer (Zitat S. 81).
  7. Müller, Loew; Hasselmann, Loew.
  8. Campus 32 (2002), Nr. 2, S. 50; Müller, Krockow; Krockow, Erinnerungen, S. 199 (Zitat Röder) sowie S. 200 (Zitat Rotstift); Eisfeld, Leute; Maihofer, Universitätsgesetz, S. 395 (Zitat Mitstreiter); Video: Von Homburg nach Europa, 58:23-59:00 Min.